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Der Himmel über Karl dem Großen: Verdunkelungen, Klimaschwankungen und Sonnenstürme um 800 n. Chr.

Eine neue Studie zweier Wiener Historiker ergründet atmosphärische und klimatische Phänomene rund um die großen politischen Umwälzungen im frühmittelalterlichen Europa

Die Krönung Karl des Großen zum Kaiser der Römer am 25. Dezember 800 wird oft als Ende eines „Dunklen Zeitalters“ gedeutet, das nach dem Untergang des Weströmischen Reichs im 5. Jahrhundert in Westeuropa begonnen hätte. Der Anspruch Karls auf den Kaisertitel wurde mit der Absetzung des oströmischen Kaisers Konstantin VI. in Konstantinopel im August 797 und der folgenden Regierung seiner Mutter Irene (die als Frau in den Augen mancher Zeitgenossen nicht als legitimer „Kaiser“ galt) gerechtfertigt. Den Sturz Konstantins, dem man auch das Augenlicht raubte, begleitete nach Angaben der wichtigsten Chronik eine „Verdunkelung“ der Sonne, die 17 Tage lang anhielt und göttliches Missfallen über den Angriff auf den Kaiser anzeigte.

Die Forschung hat diese Schilderung bislang meist als literarische Erfindung oder als übertriebene Darstellung einer zeitnah zur Blendung stattgefundenen Sonnenfinsternis abgetan. Diese Erklärung erschien Johannes Preiser-Kapeller von der Abteilung Byzanzforschung des Instituts für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Ewald Kislinger vom Institut für Byzantinistik und Neogräzistik der Universität Wien nicht überzeugend. In einer fast zweijährigen Detektivarbeit untersuchten sie deshalb nicht nur alle verfügbaren Schriftzeugnisse für die Zeit um 797 von Irland bis Syrien und vom Rheinland bis nach Süditalien nach Hinweisen, sondern auch neueste naturwissenschaftliche Befunde, darunter Daten aus Eisbohrkernen in Grönland und aus mehr als 1000 Jahre alten Baumringen in Nordskandinavien und den Schweizer Alpen.

Dabei stießen sie nicht nur auf Belege von Sonnenfinsternissen, sondern auch von massiven Sonnenstürmen, die für das Auftreten von Nordlichtern bis weit nach Süden im Gebiet der heutigen Südosttürkei sorgten. Daneben suchten Feuerbrünste, Erdbeben und Seuchen (bei Mensch und Vieh) Europa und den Mittelmeerraum in diesen Jahrzehnten heim. Gewaltige Vulkanausbrüche trugen mehrfach zu Kaltanomalien bei, die zu Missernten und sogar zum Zufrieren des Bosporus rund um Konstantinopel führten. Die bei solchen Eruptionen in die Atmosphäre ausgestoßenen Ascheteilchen trübten manchmal für Wochen oder Monate das Sonnenlicht; dies war vermutlich auch der physikalische Hintergrund für die beim Sturz des Kaisers Konstantins VI. 797 beschriebene Verdunkelung.

Karl der Große profitierte nicht nur von der Schwächung des Kaisertums in Konstantinopel, sondern auch von der bei manchen Zeitgenossen spürbaren, durch spektakuläre Naturereignisse gesteigerten Endzeitstimmung, die nach einer Erneuerung des in Ostrom „verdunkelten“ Kaisertums durch einen „starken Mann“ verlangen zu schien. Darüber hinaus hatte das byzantinische Kaisertum auch durch Maßnahmen gegen die Verehrung der heiligen Ikonen („Bildersturm“) unter den Vorgängern Irenes in den Augen der westlichen Christenheit an Legitimation verloren. Dieses dynamische Wechselspiel zwischen politischen Umwälzungen, atmosphärischen und klimatischen Phänomenen und deren Deutung konnte von Preiser-Kapeller und Kislinger nur durch die interdisziplinäre Analyse der historischen und naturwissenschaftlichen Befunde ergründet werden.

Ihre Ergebnisse wurden unter dem Titel „The sun was darkened for seventeen days (AD 797). An interdisciplinary exploration of a celestial phenomena between Byzantium, Charlemagne, and a volcanic eruption“ in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift „Medieval Worlds“ (Nr. 17; Dezember 2022) frei zugänglich publiziert: https://doi.org/10.1553/medievalworlds_no17_2022s3

Überblickskarte zu den vulkanischen und atmosphärischen Phänomenen rund um das Jahr 800 und die dafür vorliegenden historischen und naturwissenschaftlichen Daten (J. Preiser-Kapeller, ÖAW, 2022)

 

Ausgewählte politische Ereignisse, Vorzeichen und Naturphänomene im 8. bis 9. Jh.

Datum

Ereignis oder Phänomen

(Möglicher) natürlicher Hintergrund

726

Großer Vulkanausbruch auf Thera (Santorini) in der südlichen Ägäis, der angeblich Kaiser Leon III. zu ersten Maßnahmen gegen die Verehrung heiliger Bilder bewegt

 

746, März-April

Verdunkelung der Sonne in Syrien und Mesopotamien

Atmosphärische Trübung (nach einem Vulkanausbruch oder Staubstürmen)

747 oder 748, April

Geburt Karls des Großen

 

747, August

Verdunkelung der Sonne in Syrien und Mesopotamien

Atmosphärische Trübung (nach einem Vulkanausbruch oder Staubstürmen)

747/747

Letzte Ausbrüche der Ersten Pestpandemie in Konstantinopel und im Kalifat

 

ca. 752

Geburt der Eirene

 

754

Kirchenkonzil von Hiereia bei Konstantinopel unter dem Vorsitz von Kaiser Konstantin V., Beschluss von Maßnahmen gegen die Verehrung heiliger Bilder

 

762/764

Sulfatspitze in Eisbohrkernen in Grönland

Großer Vulkanausbruch

763-764, Winter

Extreme Winterkälte in ganz Europa, Zufrieren von Teilen des Schwarzen Meeres und des Bosporus um Konstantinopel

Klimaanomalie nach einem Vulkanausbruch

764, März

„Sternenfall“ in Konstantinopel

Meteoritenschauer?

767, Sommer

Schwere Dürre um Konstantinopel

 

768, 9. Oktober

Regierungsantritt Karls des Großen im Frankenreich

 

769

Hochzeit von Eirene mit Leon (IV.), Sohn von Kaiser Konstantin V.

 

771, 14. Jänner

Geburt des Konstantin VI.

 

773/774

Karl der Große erobert das Langobardenreich in Norditalien

 

774/775

Sichtungen von Polarlichtern weit im Süden bis Amida in Nordmesopotamien

Massive Eruption der Sonne ("774/775 event")

775, 14. September

Tod von Kaiser Konstantin V., Thronbesteigung von Leon IV.

 

780, 8. September

Tod von Kaiser Leon IV., Thronbesteigung von Konstantin VI. und von Eirene (als Mitkaiserin)

 

787, 16. September

Sonnenfinsternis, teilweise sichtbar in Konstantinopel

 

787, 24. September-23. Oktober

Zweites Konzil von Nikaia unter dem Vorsitz von Konstantin VI. und Eirene, die Verehrung heiliger Bilder wird wieder gestattet

 

787/800

Vulkanausbrüche des Vesuvs bei Neapel und des Monte Pilato auf den Liparischen Inseln

 

790, Februar

Streit zwischen Konstantin VI. und Eirene, Erdbeben in Konstantinopel

 

790, Oktober

Konstantin VI. setzt Eirene im Palast des Eleutherios fest, Feuersbrunst in Konstantinopel

 

792, August

Kaiser Konstantin VI. befiehlt nach einem Putschversuch die Blendung seiner Onkel väterlicherseits

 

792, 25. Dezember

Aufstand der Truppen der Armeniakoi gegen Konstantin VI., Feuersbrunst in Konstantinopel

 

792-794

Schlechtwetterperioden und Missernten im Frankenreich

Klimaanomalie (vielleicht nach einem Vulkanausbruch?)

795, September

Konstantin VI. trennt sich von seiner ersten Frau Maria und heiratet Theodote

 

796, April-Mai

Erdbeben auf Kreta und später in Konstantinopel

 

ca. 796

Ammoniumspitze in Eisbohrkernen in Grönland

Großflächige Waldbrände in Nordamerika?

797, 3. März

Sonnenfinsternis, teilweise sichtbar in Konstantinopel

 

797, Juli-798, Juli

Planet Mars am Nachthimmel im Frankenreich nicht sichtbar

Konjunktion des Mars

797, August

Blendung von Kaiser Konstantin VI. in Konstantinopel, „Verdunkelung der Sonne“ für 17 Tage

Atmosphärische Trübung nach einem Vulkanausbruch

799, 25. April

Blendung von Papst Leo III. in Rom

 

799/800

Sulfatspitze in Eisbohrkernen in Grönland

Großer Vulkanausbruch

800

Extreme Sommerkälte in Baumringen in Skandinavien und der Schweiz bemerkbar, Junifrost im Rheinland, extreme Dürre im Reich der Uiguren (Mongolei)

Klimaanomalie nach einem Vulkanausbruch

800, 25. Dezember

Krönung Karls des Großen zum Kaiser der Römer in Rom durch Papst Leo III.

 

800-801, Winter

Stürme in England, milder Winter im Rheinland, strenger Winter in Katalonien

Klimaanomalie nach einem Vulkanausbruch

801, Frühling

Epidemien bei Rindern und Menschen in England und im Rheinland

 

802, Oktober

Sturz der Kaiserin Eirene durch Nikephoros I., Schlechtwetter in Konstantinopel

 

803, 9. August

Tod von Eirene im Exil auf Lesbos

 

809/810

Schwere Seuche bei Rindern und Pferden im Reich Karls des Großen; Tod des Karl dem Großen von Kalif Harun ar-Raschid übermittelten Elefanten

 

812, 14. Mai

Sonnenfinsternis, teilweise sichtbar in Konstantinopel

 

813, 4. Mai

Sonnenfinsternis, teilweise sichtbar in Konstantinopel

 

814, 28. Jänner

Tod Karls des Großen in Aachen

 

822

Sulfatspitze in Eisbohrkernen in Grönland, extreme Kälte in Irland

Klimaanomalie nach einem Vulkanausbruch (Katla auf Island)

Aus: Johannes Preiser-Kapeller und Ewald Kislinger, "The sun was darkened for seventeen days (AD 797)". An interdisciplinary exploration of celestial phenomena between Byzantium, Charlemagne, and a volcanic eruption. Medieval Worlds 17 (2022), https://doi.org/10.1553/medievalworlds_no17_2022s3.

 

 

 

 

 

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Charlemagne´s Omen: Dark skies, climate change and solar storms around 800 AD

A new study of two Austrian historians fathoms atmospheric and climatic phenomena surrounding major political upheavals in early medieval Europe.

The coronation of Charlemagne as Roman Emperor on 25 December 800 is often interpreted as the end of a “Dark Age” that had begun in Western Europe after the fall of the Western Roman Empire in the 5th century AD. Charles' claim to the imperial title was legitimized with the deposition of the Eastern Roman Emperor Constantine VI in Constantinople in August 797 and the following reign of his mother Irene (who, as a woman, was not considered a legitimate “emperor” by some coevals). According to the most important chronicle, the fall of Constantine, who was also blinded, was accompanied by a “darkening” of the sun, which lasted 17 days and indicated divine displeasure at the attack on the emperor.

Research has so far mostly dismissed this description as a literary invention or as an exaggerated representation of a solar eclipse that took place shortly before or after the blinding. Johannes Preiser-Kapeller from the Department for Byzantine Research at the Institute for Medieval Research at the Austrian Academy of Sciences and Ewald Kislinger from the Department for Byzantine and Modern Greek Studies at the University of Vienna did not find this explanation convincing. In almost two years of detective work, they not only examined all available written evidence for the period around 797 from Ireland to Syria and from the Rhineland to southern Italy for clues, but also the latest natural scientific findings, including data obtained from ice cores in Greenland and from more than 1000 years old tree rings in northern Scandinavia and the Swiss Alps.

They not only encountered evidence of solar eclipses, but also of massive solar storms that caused the northern lights to appear far to the south in what is now southeastern Turkey. In addition, fires, earthquakes and epidemics (among humans and cattle) ravaged Europe and the Mediterranean region in these decades (see also the chronological overview below). Massive volcanic eruptions, in turn, repeatedly contributed to cold anomalies that led to crop failures and even the freezing of the Bosphorus around Constantinople. The ash particles ejected into the atmosphere by such eruptions also sometimes obscured sunlight for weeks or months; this was probably also the physical background for the darkening described for the fall of Emperor Constantine VI in 797.

Charlemagne benefited not only from the weakening of imperial power in Constantinople, but also from the apocalyptic mood felt by some of his contemporaries, heightened by spectacular natural events, which seemed to call for a “strong man” to renew the Roman Empire “darkened” in the East. In addition, the Byzantine Empire had lost some of its legitimacy in the eyes of Western Christianity as a result of measures taken against the veneration of the holy images (“iconoclasm”) under Irene’s predecessors. This dynamic interplay between political upheavals, atmospheric and climatic phenomena and their interpretation could only be explored by Preiser-Kapeller and Kislinger through the interdisciplinary analysis of historical and natural archives.

Their findings are published open access online in the scientific journal Medieval Worlds (nr 17, December 2022) under the title “The sun was darkened for seventeen days (AD 797). An interdisciplinary exploration of celestial phenomena between Byzantium, Charlemagne, and a volcanic eruption”, https://doi.org/10.1553/medievalworlds_no17_2022s3

Overview map of the volcanic and atmospheric phenomena around the year 800 and the available historical and scientific data (J. Preiser-Kapeller, OEAW, 2022)

 

Selected political events, portents and natural phenomena in the 8th to 9th century AD

Time

Event or phenomenon

(Possible) physical background

726

Large volcanic eruption on Thera (Santorini) in the southern Aegean, said to have motivated Emperor Leon III to take first measures against the veneration of sacred images

 

746, March-April

Veiling of the sun in Syria and Mesopotamia

Atmospheric turbidity (after a volcanic eruption or dust storms)

747 or 748, April

Birth of Charlemagne

 

747, August

Veiling of the sun in Syria and Mesopotamia for 5 days

Atmospheric turbidity (after a volcanic eruption or dust storms)

747/747

Last outbreaks of the First Plague Pandemic in Constantinople and in the Caliphate

 

ca. 752

Birth of Eirene

 

754

Ecclesiastical Council of Hiereia near Constantinople, chaired by Emperor Constantine V, adopts measures against the veneration of sacred images

 

762/764

Sulphate peak in ice cores in Greenland

Major volcanic eruption

763-764, Winter

Extreme winter cold across Europe, freezing of parts of the Black Sea and the Bosporus around Constantinople

Climate anomaly after a volcanic eruption

764, March

“Falling of stars” in Constantinople

Meteorite shower?

767, Summer

Severe drought around Constantinople

 

768, 9 October

Accession to power of Charlemagne in the Frankish Kingdom

 

769

Wedding of Eirene to Leon (IV), son of Emperor Constantine V

 

771, 14 January

Birth of Constantine VI

 

773/774

Charlemagne conquers the Lombard Kingdom in Northern Italy

 

774/775

Sightings of auroras a far south as Amida in northern Mesopotamia

Massive outbreak of the sun ("774/775 event")

775, 14 September

Death of Emperor Constantine V, accession to the throne of Leon IV

 

780, 8 September

Death of Emperor Leon IV, accession to the throne of Constantine VI and of Eirene (as co-empress)

 

787, 16 September

Solar eclipse, partially visible in Constantinople

 

787, 24 September-23 October

Second Council of Nicaea, presided by Constantine VI and Eirene, the veneration of sacred images is permitted again

 

787/800

Volcanic eruptions of Vesuvius near Naples and Monte Pilato on the Liparic Islands

 

790, February

Discord of Constantine VI and Eirene, earthquake in Constantinople

 

790, October

Constantine VI has Eirene confined to the Palace of Eleutherios, fire in Constantinople

 

792, August

Emperor Constantine VI orders the blinding of his paternal uncles after an attempted coup

 

792, 25 December

Rebellion of the army corps of the Armeniacs against Constantine VI, fire in Constantinople

 

792-794

Periods of bad weather and crop failures in the Frankish realms

Climate anomaly (maybe after a volcanic eruption?)

795, September

Constantine VI separates from his first wife Maria and marries Theodote

 

796, April-May

Earthquakes in Crete and later in Constantinople

 

ca. 796

Ammonium peak in ice cores in Greenland

Large scale wildfires in North America?

797, 3 March

Solar eclipse, partially visible in Constantinople

 

797, July-798, July

Planet Mars not visible on the night sky in the Frankish realms

Conjunction of Mars

797, August

Blinding of Emperor Constantine VI in Constantinople, “darkening of the sun” for 17 days

Atmospheric turbidity after a volcanic eruption

799, 25 April

Blinding of Pope Leo III in Rome

 

799/800

Sulphate peak in ice cores in Greenland

Major volcanic eruption

800

Severe summer cold registered in tree rings in Scandinavia and Switzerland, frost in June in the Rhineland, extreme drought in the Empire of the Uyghurs (Mongolia)

Climate anomaly after a volcanic eruption

800, 25 December

Coronation of Charlemagne as Emperor of the Romans in Rome by Pope Leo III

 

800-801, Winter

Storms in England, mild winter in the Rhineland, severe winter in Catalonia

Climate anomaly after a volcanic eruption

801, Spring

Epidemics among cattle and humans in England and the Rhineland

 

802, October

Overthrow of Empress Eirene by Nikephoros I, bad weather in Constantinople

 

803, 9 August

Death of Eirene in exile on Lesbos

 

809/810

Severe epidemic among cattle and horses in the  Empire of Charlemagne; death of the elephant conveyed to Charlemagne by Caliph Harun ar-Rashid

 

812, 14 May

Solar eclipse, partially visible in Constantinople

 

813, 4 May

Solar eclipse, partially visible in Constantinople

 

814, 28 January

Death of Charlemagne in Aachen

 

822

Sulphate peak in ice cores in Greenland, extreme cold weather in Ireland

Climate anomaly after a volcanic eruption (Katla on Iceland)

From: Johannes Preiser-Kapeller and Ewald Kislinger, “The sun was darkened for seventeen days (AD 797)”. An interdisciplinary exploration of celestial phenomena between Byzantium, Charlemagne, and a volcanic eruption. Medieval Worlds 17/2022, https://doi.org/10.1553/medievalworlds_no17_2022s3

 

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The longest-serving monarchs in world history

The death of Queen Elizabeth II on 8 September 2022, like her previous reign anniversaries, gave rise to various superlatives about her record-breaking reign of more than 70 years.

In terms of global history across all times and continents, she is actually one of those monarchs who have held the throne for the longest time. The graphic below gives an overview of kings, queens, empresses and emperors who have sat on the throne for at least 60 years.

However, not all of them actually exercised the duties of government during these decades - some were crowned as small children and only later actually took over power in the state, others wore the crown but had little influence on politics. Likewise, some presided over small states such as Monaco or Liechtenstein, while others ruled large empires. A comparison according to years on the throne thus only gives insufficient insight into the actual power of these people.

For the following rulers, reigns that are as long or even longer than those of Elizabeth II are documented:

Sobhuza II (Swaziland, 1899-1982): Born on July 22, 1899, to King Ngwane V, he was proclaimed ruler of Swaziland (now Eswatini) in southern Africa after his father's death four months after his birth. Therefore Sobhuza's grandmother Labotsibeni Mdluli ruled; it was not until December 22, 1921 that he took over government affairs. After the country gained independence from Great Britain in 1968, Sobhuza II deposed the parliament and ruled as absolute king until his death on August 21, 1982.

Karl Friedrich (Baden, 1738-1811): He succeeded his grandfather Charles III in 1738 at the age of 10. as Margrave of Baden-Durlach (in the south-west of today's Germany on the Rhine), but was under the guardianship of his grandmother Magdalena Wilhelmine von Württemberg until 1746. In 1771 he inherited the possessions of the secondary line of Baden-Baden. In 1803, as a result of the Napoleonic Wars, the area of Baden was further enlarged, and Karl Friedrich ruled as Grand Duke until his death in 1811.

Louis XIV (France, 1643-1715): Born September 5, 1638, after the death of his father Louis XIII, he was proclaimed King of France at the age of five. He was initially under the guardianship of his mother Anna of Austria (a Spanish Habsburg) and the chief minister, Jules Mazarin, also exercised decisive influence. Only after his death in 1661 did Louis XIV actually take over the government and went down in history as the “Sun King” due to his absolutist development of power (construction of the Palace of Versailles) and his many wars of conquest.

Johann II (Liechtenstein, 1858-1929): Born on October 5, 1840, at the age of 18, after the death of his father Alois II in 1858, he took over the rule of Liechtenstein, which has been a sovereign state since 1806 and 1815 respectively. Although he ensured the modernization and initial industrialization of the small country, he was also criticized for his almost constant absence, especially in the neighboring Austrian Empire, where the Liechtensteins had more extensive possessions. Only after the fall of the Danube monarchy in World War I did the principality gain in importance as the core of the remaining power of the house.

Bhumibol Adulyadej (Thailand, 1946-2016): Born on December 5, 1927, he succeeded his brother Ananda Mahidol to the throne of Thailand on June 9, 1946, but only actually took over the government in 1951 after several stays abroad. In the very turbulent history of Thailand, which was marked by several military coups and internal conflicts, he has represented the most important symbol of state stability over time, also due to his religious role. A year of national mourning followed his death on October 13, 2016.

Shapur II (Persia, 309-379): Shapur II from the Persian dynasty of the Sasanians, who ruled today's Iran and Iraq, was crowned Great King after the death of his father Hormizd II and fierce struggles for the throne, allegedly while still in his mother's womb. The affairs of state were initially run by his mother and several nobles before Shapur actually took power at the age of 16. He found his way into ancient historiography mainly through several successful wars against the competing great power of the Roman Empire.

Author: Johannes Preiser-Kapeller, Austrian Academy of Sciences

 

 

 

 

 

 

 

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Die längstdienenden Monarchinnen und Monarchen der Weltgeschichte

Der Tod von Königin Elizabeth II. am 8. September 2022 gab, wie schon ihre vorherigen Regierungsjubiläen, Anlass zu verschiedenen Superlativen über ihre rekordverdächtig lange Regentschaft von mehr als 70 Jahren.

Globalhistorisch über alle Zeiten und Kontinente hinweg betrachtet gehört sie damit tatsächlich zu jenen Monarchinnen und Monarchen, die den Thron am längsten innehatten. Untenstehende Grafik gibt einen Überblick über Königinnen und Könige, Kaiserinnen und Kaiser, die zumindest 60 Jahre auf dem Thron saßen.

Nicht alle übten allerdings während dieser Jahrzehnte auch tatsächlich die Regierungsgeschäfte aus – manchen wurden schon als kleine Kinder gekrönt und übernahmen erst später tatsächlich die Macht im Staat, andere trugen zwar die Krone, hatten aber nur wenig Einfluss auf die Politik. Ebenso standen einige Kleinstaaten wie Monaco oder Liechtenstein vor, während andere große Weltreiche beherrschten. Ein Vergleich nach Jahren auf dem Thron gibt somit nur ungenügend Einblick in die tatsächliche Macht dieser Personen.

Für folgende Herrscher ist eine ebenso lange oder sogar längere Regentschaft im Vergleich zu Elizabeth II. dokumentiert:

Sobhuza II. (Swasiland, 1899-1982): Er wurde am 22. Juli 1899 als Sohn von König Ngwane V. geboren und schon vier Monate nach seiner Geburt nach dem Tod seines Vaters zum Herrscher von Swasiland (heute Eswatini) im südlichen Afrika ausgerufen. Deshalb führte Sobhuzas Großmutter Labotsibeni Mdluli die Regentschaft; erst am 22. Dezember 1921 übernahm er die Regierungsgeschäfte. Nach der Unabhängigkeit des Landes von Großbritannien 1968 entmachte Sobhuza II. das Parlament und regierte bis zu seinem Tod am 21. August 1982 als absoluter Herrscher.

Karl Friedrich (Baden, 1738-1811): Er folgte 1738 im Alter von 10 Jahren seinem Großvater Karl III. als Markgraf von Baden-Durlach (im Südwesten des heutigen Deutschland am Rhein) nach, stand allerdings bis 1746 unter der Vormundschaft seiner Großmutter Magdalena Wilhelmine von Württemberg. 1771 erbte er die Besitzungen der Nebenlinie von Baden-Baden; 1803 wurde infolge der Napoleonischen Kriege das Gebiet von Baden weiter vergrößert, und Karl Friedrich herrschte nun bis zu seinem Tod 1811 als Großherzog

Ludwig XIV. (Frankreich, 1643-1715): Geboren am 5. September 1638, wurde er nach dem Tod seines Vaters Ludwig XIII. schon im Alter von fünf Jahren zum König von Frankreich ausgerufen. Er stand zunächst unter der Vormundschaft seiner Mutter Anna von Österreich (einer spanischen Habsburgerin), entscheidenden Einfluss übte auch der Leitende Minister Jules Mazarin aus. Erst nach dessen Tod 1661 übernahm Ludwig XIV. tatsächlich die Regierung und ging durch seine absolutistische Machtentfaltung (Bau von Schloss Versailles) und seine vielen Eroberungskriege als „Sonnenkönig“ in die Geschichte ein.

Johann II. (Liechtenstein, 1858-1929): Geboren am 5. Oktober 1840, übernahm er im Alter von 18 Jahren nach dem Tod seines Vaters Alois II. im Jahr 1858 die Herrschaft in Liechtenstein, das seit 1806 bzw. 1815 als souveräner Staat gilt. Er sorgte zwar für eine Modernisierung und erste Industrialisierung des kleine Landes, wurde aber auch wegen seiner fast ständigen Abwesenheit insbesondere im benachbarten Kaisertum Österreich, wo die Liechtenstein über umfangreichere Besitzungen verfügten, kritisiert. Erst nach dem Untergang der Donaumonarchie im Ersten Weltkrieg gewann das Fürstentum an Bedeutung als Kern der verbliebenen Macht des Hauses.

Bhumibol Adulyadej (Thailand, 1946-2016): Geboren am 5. Dezember 1927, folgte er am 9. Juni 1946 seinem Bruder Ananda Mahidol auf den Thron Thailands, übernahm allerdings erst ab 1951 nach mehreren Auslandsaufenthalten tatsächlich die Regierung. In der sehr turbulenten Geschichte Thailands, die von mehreren Militärputschs und inneren Konflikten gekennzeichnet war, stellte er im Laufe der Zeit das wichtigste Symbol staatlicher Stabilität dar, auch aufgrund seiner religiösen Rolle. Seinem Tod am 13. Oktober 2016 folgte eine einjährige Staatstrauer.

Schapur II. (Persien, 309-379): Schapur II. aus der persischen Dynastie der Sasaniden, die den heutigen Iran und Irak beherrschten, wurde nach dem Tod seines Vaters Hormizd II. und heftiger Kämpfe um den Thron angeblich schon im Mutterleib zum Großkönig gekrönt. Die Regierungsgeschäfte führten zunächst seine Mutter und mehrere Adelige, bevor Schapur im Alter von 16 Jahren tatsächlich die Macht übernahm. Eingang in die antike Geschichtsschreibung fand er vor allem durch mehrere erfolgreiche Kriege gegen die konkurrierende Großmacht des Römischen Reichs.

Autor: Johannes Preiser-Kapeller, Institut für Mittelalterforschung, Österreichische Akademie der Wissenschaften

 

 

 

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Creative destruction – the costs of innovation

Live Keynote for the 4GAMECHANGERS-Festival of the Austrian TV stations Puls24 and ORF, 28 June 2022 (English translation)

Video: https://www.puls24.at/video/4gamechangers/4gamechangers-festival-creative-destruction-die-kosten-der-innovation/v-cl0aknqznp15

Follow up-Interview:  https://www.puls24.at/video/4gamechangers/4gamechangers-festival-johannes-preiser-kapeller-im-interview/v-cl0aknqz6dkp?

"Technology breeds anarchy". Therefore, in the fourth volume of Frank Herbert's Dune series, the immortal god-emperor decides to freeze the development of mankind for more than 3000 years. Innovations are forbidden, technical progress no longer takes place.

In fact, we can discover such attempts at exnovation in human history. Beginning in the 1540s, the introduction of firearms by European traders to Japan contributed to aggravated internal strife and decades of civil wars. Huge armies were mobilized, large areas were devastated. Only after 60 years did some leaders prevail and took over power in the country as shoguns. They imposed a restriction on the imported innovation. Most people had to give up their firearms, which were melted down into statues of Buddha. Gunsmiths were only allowed to live and work in a few selected places under strict supervision. A further development of the weapon was forbidden to them.

It was only when the advance of new imperial powers threatened to turn Japan into a colony around the middle of the 19th century that the country opened up again to this pivotal innovation of modern times and introduced a modern army with the latest weapons. The price of this innovation was the collapse of the social order that had benefited from the containment of these innovations for over two centuries. The samurai either became soldiers in the new modern army or disappeared. After all, they were allowed to take their swords with them into the new, much more destructive war machines, right up to the kamikaze planes of World War II.

During the Second World War, in 1942, the Austrian economist Joseph Schumpeter also formulated his concept of "creative destruction". He wrote that economic changes fueled by innovation would contribute to the breakdown and destruction of existing structures and older forms of production. And this is necessary to ensure the efficiency and growth of the economy.

Schumpeter and other economists assumed that such creative destructions only started with the beginning of modern industrialization and capitalism 200 years ago and took place in waves every few decades, tied to key innovations such as the steam engine, the railway, the internal combustion engine or, most recently, the microchip . Thus it becomes clear that innovations do not only arise as answers to challenges or crises, but in turn could become the roots of new crises. Because in those branches of production that are suppressed and destroyed in these acts of creative destruction, mass unemployment, social misery and crises can occur that severely shake the affected societies.

In the longer term, we are also only now beginning to understand that the dependence of the key innovations of the 19th century on burning fossil fuels is at the root of the climate crisis we are facing today.

The German sociologist Ulrich Beck wrote in his book “Risk Society” that in modern society the production of wealth and prosperity is increasingly accompanied by the production of unplanned and unexpected risks that affect society as a whole. It is no coincidence that this book was published in 1986, the year of the Chernobyl reactor disaster. Japan, too, embarked on this path of a modern risk society when it opened up to the innovations of industrialization in the mid-19th century, which reached a new peak in 2011 with the Fukushima reactor accident.

In my research, I try to extend this concept of risk society to the last 10,000 years since the beginning of the Neolithic revolution. Already with the transition to agriculture and a sedentary lifestyle, new dependencies on the yield of their crops and new vulnerabilities to climatic fluctuations, pests and other factors emerged for human communities. Likewise, the closer coexistence between humans and the pets they domesticated helped make it easier for pathogens to cross the interspecies barrier. As paleogenetic research has shown in recent years, many of the infectious diseases that plague us to this day only emerged in the millennia since this essential cultural change. These pathogens also migrated as uninvited guests on the land and sea trade routes that connected different parts of the world ever more closely, causing pandemics.

This makes it clear: human progress and innovation are not possible without risk. Yes, risk may even be an incentive to venture across the ocean. However, in our admiration for Christopher Columbus, for example, we should not forget that his "discovery" heralded a process of outsourcing the social and ecological costs of Western Europe's economic growth to an increasingly large “oversea”, where "cheap nature" and "cheap labour", even in the form of slavery, were exploited. And to this day, the remnants of our latest innovations continue to devastate communities and communities across West Africa in the form of e-waste. Historical research has for too long worshiped dubious heroes whose achievements have benefited the few but contributed to the misery of many – and it is only in recent years that some of their monuments have been toppled.

I don't want to be a spoilsport for the GameChangers here. Innovation is essential to human progress, and inventiveness should be rewarded and admired. As technology assessment teaches us, "technical progress is necessary to overcome the negative consequences of older technology." However, these innovations will also have "not only desirable but also unintended, sometimes surprising and often undesirable and problematic consequences". However, we do not have an all-knowing God-Emperor assessing all possible mid- and long-term implications, costs, and risks.

But perhaps we can agree to change the rules of the game so that its time horizon does not end where all profits have been distributed and all patents and warranties have expired. The technology philosopher Bernhard Irrgang advocates “long-term responsibility” as a sign of sustainable development. It is not enough for an innovator to say “where I am is in front” – and behind me is the deluge.

Nevertheless, “long-term responsibility” is maybe a too grandiose term. But perhaps, in our own interest, we can agree that we are in a legacy game, where every change in the game profoundly alters the game board – for everyone connected in the game, with enduring repercussions for every subsequent game that is played. Historical research explains why the game board looks the way it does now - but also points out that many more people have always been involved in this game without being asked than those who drive the game. In the modern globally networked technosphere, this is all 8 billion people on our planet.

Thus, every decision, every choice of the players not only affects their own development path, but also the development path of all people who are entangled in this game without being asked. We must at least try all the more carefully to fathom which path is linked to which possible effects - in a time horizon that extends beyond credit terms and legislative periods to the end of this century, perhaps even into the time periods that the god emperor of the desert planet has an overview of. Because we are just about to leave the climate corridor in which we have found ourselves for the last ten millennia, in which complex human societies and innovations were possible at all.

 

 

 

 

 

 

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Creative destruction – die Kosten der Innovation

Live Keynote für das 4GAMECHANGERS-Festival von Puls24 und ORF, 28. Juni 2022

Video: https://www.puls24.at/video/4gamechangers/4gamechangers-festival-creative-destruction-die-kosten-der-innovation/v-cl0aknqznp15

Follow up-Interview:  https://www.puls24.at/video/4gamechangers/4gamechangers-festival-johannes-preiser-kapeller-im-interview/v-cl0aknqz6dkp

„Technologie bringt Anarchie“. Deshalb beschließt im vierten Band der Wüstenplanet-Reihe von Frank Herbert der unsterbliche Gottkaiser, die Entwicklung der Menschheit für mehr als 3000 Jahre einzufrieren. Innovationen werden verboten, technischer Fortschritt findet nicht mehr statt.

Tatsächlich können wir solche Versuche der Exnovation in der Geschichte der Menschheit entdecken. Ab den 1540er Jahren trug die Einführung von Feuerwaffen durch europäische Händler in Japan zu einer Verschärfung der inneren Konflikte und jahrzehntelangen Bürgerkriege bei. Gewaltige Armeen wurden mobilisiert, große Landstriche wurden verwüstet. Erst nach 60 Jahren setzten sich einige Anführer durch und übernahmen als Shogune die Macht im Land. Sie verfügten eine Einschränkung der importierten Innovation. Die meisten Menschen mussten ihre Feuerwaffen abgeben, diese wurden in Statuen Buddhas umgeschmolzen. Büchsenmacher durften nur mehr an einigen ausgewählten Orten unter strenger Aufsicht leben und arbeiten. Eine Weiterentwicklung der Waffe war ihnen verboten.

Erst als um die Mitte des 19. Jahrhunderts das Vordringen neuer imperialer Mächte drohte, Japan zu einer Kolonie zu machen, öffnete sich das Land wieder für diese Leitinnovation der Neuzeit und führte eine moderne Armee mit den neuesten Waffen ein. Der Preis für diese Neuerung war der Zusammenbruch der Gesellschaftsordnung, die über zwei Jahrhunderte von der Einhegung dieser Entwicklungen profitiert hatte. Die Samurai wurden entweder Soldaten in der neuen modernen Armee oder verschwanden. Immerhin durften sie ihre Schwerter auch in die neuen, viel zerstörerischen Kriegsmaschinen mitnehmen, bis hin zu den Kamikaze-Fliegern im Zweiten Weltkrieg.

Während des Zweiten Weltkriegs, im Jahr 1942, formulierte der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter auch sein Konzept der „kreativen“, der „schöpferischen Zerstörung“. Er schrieb, dass durch Innovationen befeuerte Veränderungen der Wirtschaftsweise zu einem Zusammenbruch, zu einer Zerstörung bestehender Strukturen und Produktionsformen beitragen würden. Und dies sei notwendig, um die Effizienz und das Wachstum der Wirtschaft zu gewährleisten.

Schumpeter und andere Ökonomen nahmen an, dass solche schöpferische Zerstörungen erst mit dem Beginn der modernen Industrialisierung und des Kapitalismus vor 200 Jahren starteten und sich alle paar Jahrzehnte in Wellen vollzogen, festgemacht an Leitinnovationen wie der Dampfmaschine, der Eisenbahn, dem Verbrennungsmotor oder zuletzt dem Mikrochip. Klar wird dabei, dass Innovationen nicht nur als Antworten auf Herausforderungen oder Krisen entstehen, sondern ihrerseits die Wurzeln neuer Krisen werden. Denn in jenen Produktionszweigen, die in diesen Akten schöpferische Zerstörung verdrängt und vernichtet werden, kann es zu Massenarbeitslosigkeit, zu sozialem Elend und zu Krisen kommen, die die betroffenen Gesellschaften schwer erschüttern.

In der Langzeitperspektive verstehen wir auch erst jetzt, dass die Abhängigkeit der Leitinnovationen des 19. Jahrhunderts von der Verbrennung fossiler Brennstoffe die Ursache jener Klimakrise ist, mit der wir heute konfrontiert sind.

Der deutsche Soziologe Ulrich Beck schrieb in seinem Buch „Risikogesellschaft“, dass in der modernen Gesellschaft die Produktion von Reichtum und Wohlstand immer mehr mit der Produktion von ungeplanten und unerwarteten Risiken einhergeht, die die gesamte Gesellschaft betreffen. Nicht zufällig erschien dieses Buch 1986 im Jahr der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Auch Japan begab sich mit der Öffnung gegenüber den Innovationen der Industrialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts auf diesen Pfad einer Risikogesellschaft, der 2011 im Reaktorunfall von Fukushima einen neuen Gipfel erreichte.

In meiner Forschung versuche ich dieses Konzept der Risikogesellschaft auf die letzten 10000 Jahre seit dem Beginn der neolithischen Revolution auszudehnen. Denn schon mit dem Übergang zur Landwirtschaft und einer sesshaften Lebensform entstanden für menschliche Gemeinschaften neue Abhängigkeiten vom Ertrag ihrer Ackerfrüchte und neue Verwundbarkeiten gegenüber klimatischen Schwankungen, Schädlingen und anderen Faktoren. Ebenso trug das engere Zusammenleben zwischen Menschen und den von ihnen domestizierten Haustieren dazu bei, dass es für Krankheitserreger leichter wurde, die Barriere zwischen den Spezies zu überwinden. Wie paläogenetische Forschung in den letzten Jahren zeigt, sind viele der Infektionskrankheiten, die uns bis heute plagen, erst in den Jahrtausenden seit diesem essenziellen Kulturwandel entstanden. Diese Krankheitserreger wanderten auch als ungebetene Gäste auf den Handelsrouten zu Lande und zu Wasser, über die sich verschiedene Weltgegenden immer enger miteinander verbanden, und sorgten für Pandemien.

Klar wird damit: menschlicher Fortschritt und Innovation sind nicht ohne Risiko möglich. Ja Risiko ist vielleicht sogar ein Anreiz dafür, die Fahrt über den Ozean zu wagen. Wir sollten aber in der Bewunderung etwa für einen Christoph Kolumbus nicht vergessen, dass seine „Entdeckung“ einen Prozess der Auslagerung der sozialen und ökologischen Kosten des wirtschaftlichen Wachstums Westeuropas in ein immer größeres Übersee einläutete, wo „billige Natur“ und „billige Arbeitskraft“ selbst in der Form von Sklaverei ausgebeutet wurden. Und bis heute tragen auch die Überreste unserer neuesten Innovationen in Gestalt von Elektroschrott zur Verwüstung von Landstrichen und Gemeinschaften in ganz Westafrika bei. Zu lange hat auch die Geschichtsforschung fragwürdige Helden verehrt, deren Leistungen zum Nutzen weniger, aber zum Elend vieler beitrugen – und erst in den letzten Jahren sind manche ihrer Monumente gestürzt worden.

Ich möchte hier nicht als Spielverderber für die GameChanger auftreten. Innovation ist essentiell für den menschlichen Fortschritt, und Erfindungsreichtum sollte belohnt und bewundert werden. Wie uns die Technikfolgen-Abschätzung lehrt, ist „technischer Fortschritt nötig, um die negativen Folgen der älteren Technik zu überwinden,“ Doch auch diese Innovationen werden „nicht nur erwünschte, sondern auch nicht intendierte, teils überraschende und oft unerwünschte und problematische Folgen“ haben. Allerdings verfügen wir nicht über einen allwissenden Gottkaiser, der alle möglichen mittel- und langfristigen Auswirkungen, Kosten und Risiken einschätzt.

Aber vielleicht können wir uns darauf einigen, die Regeln des Spiels dahingehend zu ändern, dass sein Zeithorizont nicht dort endet, wo alle Profite verteilt, alle Patente ausgelaufen und Gewährleistungsfristen verjährt sind. Der Technikphilosoph Bernhard Irrgang plädiert für eine „Langzeitverantwortung“ als Kennzeichen einer nachhaltigen Entwicklung. Für einen Innovator genügt es nicht zu behaupten, „wo ich bin, ist vorne“ – und hinter mir die Sintflut. Dennoch ist „Langzeitverantwortung“ ein hochtrabender Begriff. Aber vielleicht können wir uns im Eigeninteresse darauf verständigen, dass wir uns in einem Legacy-Spiel befinden, wo jede Veränderung im Spiel nachhaltig auch den Spielplan verändert – für alle, die im Spiel miteinander verbunden sind, mit dauerhaften Auswirkungen auf jede folgende Partie, die gespielt wird. Die Geschichtsforschung erklärt, warum der Spielplan so aussieht, wie er jetzt aussieht – aber macht ebenso darauf aufmerksam, dass in diesem Spiel immer ungefragt sehr viel mehr Menschen verwickelt waren, als jene, die das Spiel vorantreiben. In der modernen global vernetzten Technosphäre sind dies alle 8 Milliarden Menschen auf unserem Planeten.

Somit hat jede Entscheidung, jede Wahl der Spieler nicht nur Auswirkungen auf ihren eigenen Entwicklungspfad, sondern auf den Entwicklungspfad aller in diesem Spiel auch ungefragt vernetzten Menschen. Umso sorgfältiger müssen wir zumindest versuchen, auszuloten, welcher Pfad mit welchen möglichen Auswirkungen verknüpft ist – in einem Zeithorizont, der über Kreditlaufzeiten und Legislaturperioden hinaus reicht, bis hin zum Ende dieses Jahrhunderts, ja vielleicht sogar in jene Zeiträume, die der Gottkaiser des Wüstenplaneten überblickt. Denn wir sind gerade dabei, den Klimakorridor, in dem wir uns in den letzten zehn Jahrtausenden befunden haben, in dem komplexe menschliche Gesellschaften und Innovationen überhaupt möglich waren, zu verlassen. 

 

 

 

 

 

 

 

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Frankenstein und ein Vulkan (1816)

Wie Mary Shelley das „Jahr ohne Sommer“ erlebte

(Der Text diente als Grundlage eines Beitrags für die Sendereihe „Betrifft: Geschichte“ auf Radio Ö1, gestaltet zusammen mit Hanna Ronzheimer und ausgestrahlt am 27. 8. 2021: https://oe1.orf.at/programm/20210827/649349/Auf-den-historischen-Spuren-des-Klimawandels)

In der Einleitung zu ihrem Roman „Frankenstein“ berichtet die Verfasserin Mary Shelley über die Umstände der Entstehung dieser weltberühmten Geschichte: „Im Sommer 1816 besuchten (mein Mann und ich) die Schweiz und wurden Nachbarn von Lord Byron. Zuerst verbrachten wir unsere Mußestunden auf dem (Genfer) See oder auf Spaziergänge an seinem Ufer. (…) Aber der Sommer stellte sich als nass und unfreundlich heraus, und unablässiger Regen fesselte uns oft tagelang ans Haus. Einige vom Deutschen in Französische übersetzte Bände Gespenstergeschichten fielen uns in die Hände. (…) „Wir wollen alle eine Gespenstergeschichte schreiben“, sagte Lord Byron, und sein Vorschlag wurde angenommen.“ In ihrem Tagebuch liefert Mary Shelley weitere Beschreibungen der damaligen Witterung: „Die Gewitterstürme, die uns heimsuchen, sind grandioser und furchterregender, als ich es jemals erlebt habe. Wir sehen, wie sie von der anderen Seite des Sees herannahen, beobachten die Blitze, die in verschiedenen Himmelsregionen zwischen den Wolken tanzen und in den zerklüfteten Formationen auf den bewaldeten Anhöhen des Jura einschlagen, verdunkelt von den drohend schwebenden Wolken.“ Damals, so behauptete Mary Shelley zumindest später, entstand ihre Idee für den „Frankenstein“.

Abb. 1 Die Schriftstellerin Mary Shelley (1797-1851) und die 1831er Ausgabe des von ihr zuerst 1818 veröffentlichten Romans „Frankenstein or The Modern Prometheus“ (Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Mary_Wollstonecraft_Shelley_Rothwell.tif bzw. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Frankenstein.1831.inside-cover.jpg)

Die extreme Witterung des Sommers 1816 war für die wohlhabenden Touristen aus England nur eine Trübung ihres Ferienvergnügens. Millionen Menschen weltweit brachte sie aber bitterste Not und Elend. Ausgelöst hatte diese globale Krise mehr als ein Jahr zuvor im April 1815 der gewaltige Ausbruch des Vulkans Tambora auf der Insel Sumbawa im heutigen Indonesien. Schon in den Jahren zuvor waren mehrere Vulkane in der Region ausgebrochen. Die Eruption des Tambora erreichte aber das Hundertfache der Gewalt dieser früheren Ereignisse und immer noch das Zehnfache des berühmten Ausbruchs des Krakatau 1883. Von der ursprünglichen Höhe des Tambora von 4200 Meter wurden fast 1400 Meter weggesprengt und ca. 150 Kubikkilometer an vulkanischem Material ausgestoßen. Die Eruptionssäule des Tambora erreichte mit einer Höhe von mehr als 25 Kilometern die oberen Schichten der Atmosphäre; das ausgeworfene Material verbreitete sich dort in den folgenden Monaten auf dem gesamten Globus und erzeugte verschiedene Himmelserscheinungen.

Abb. 2 Die Lage des Vulkans Tambora im heutigen Indonesien und die Ascheniederschläge während des Ausbruchs 1815 (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Tambora#/media/Datei:1815_tambora_explosion_B.png)

Noch mehrere Jahre konnte man ungewöhnliche Farben bei Sonnenuntergängen beobachten, die durch die vulkanischen Staubteilchen hervorgerufen wurden. Fatal waren jedoch die klimatischen Folgen der Veränderung der Atmosphäre; 1816 wurde zu einem „Jahr ohne Sommer“, in dem man unerwartete Kälteeinbrüche und langanhaltende Dauerregen in vielen Regionen Nordamerikas und Europas verzeichnete. Dort hatte man gerade die Napoleonischen Kriege hinter sich gebracht und auf friedlichere Zeiten gehofft. Diese Extremereignisse verminderten die Ernten verschiedener Feldfrüchte oder vernichteten sie zur Gänze. Mangel und Verteuerung der Lebensmittel, Hungersnot und Verelendung weiter Bevölkerungsgruppen waren die Folge. Die Staaten Europas waren – nach Jahren der Kriegsführung – nur ungenügend auf die Katastrophe vorbereitet. Zwar versuchte man durch Ausfuhrverbote, Preisregelungen und Maßnahmen gegen Spekulanten und Wucherer den Mangel an Nahrung zu mindern; jedoch waren die staatlichen Autoritäten mindestens ebenso an der Eindämmung potentiell revolutionärer Unruhen interessiert und gingen gegen die wachsende Zahl der Bettler und Landstreicher vor. Entscheidend war also erneut nicht die Klima-Anomalie allein, sondern die Reaktion der verschiedenen Gesellschaften auf die damit einhergehende Krise, die deren Folgen dämpfte oder verschärfte.

Abb. 3: Vergleich der Sommertemperaturen von 1816 in Europa zum langjährigen Mittel 1971–2000 (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Jahr_ohne_Sommer#/media/Datei:1816_summer.png)

Der Vulkanausbruch des Tambora markierte einen weiteren Höhepunkt der seit dem 14. Jahrhundert anhaltenden Kleinen Eiszeit. Allerdings ging diese mit Anfang des 20. Jahrhunderts in eine moderne Warmzeit über. Nun stiegen die globalen Durchschnittstemperaturen an, ab dem späten 20. Jahrhundert in einem frühere Perioden des Klimawandels übertreffenden Ausmaß, das durch natürliche Klimafaktoren nicht mehr erklärbar ist. Größerer Vulkaneruptionen wie jene des Pinatubo auf den Philippinnen 1991 sorgten zwar kurzfristig für eine messbare Reduktion der Sonneneinstrahlung, verlangsamten aber den Temperaturanstieg nur wenig. Der wachsende Anteil von Treibhausgasen wie CO2 und Methan in der Atmosphäre ist auf Emissionen verschiedener menschlicher Aktivitäten zurückzuführen, insbesondere die Nutzung fossiler Brennstoffe wie Kohle und Erdöl. 1816, als Mary Shelley ihren Roman schrieb, gewann die Industrialisierung gerade an Fahrt. „Frankenstein“ verstand sie auch als Warnung vor den unerwarteten Gefahren moderner Wissenschaft und Technik. An einer Stelle warnt das Monster seinen Schöpfer: „Es liegt bei dir, ob ich die Nähe der Menschen für immer meide und ein harmloses Leben führe oder die Geißel deiner Mitmenschen werde und der Urheber deines eigenen rapiden Untergangs.“ Mit Schaudern blickt auch der Historiker auf die bereits spürbaren und möglichen künftigen Folgen des von der Menschheit selbst entfesselten Klimawandels.

Abb. 4: Globale Temperaturentwicklung (rot), atmosphärische CO2-Konzentration (blau) und Sonnenaktivität (gelb) seit dem Jahr 1850 (Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Temp-sunspot-co2.svg)

 

Mehr zum Ausbruch des Tambora 1815 und dem „Jahr ohne Sommer“ (mit Literaturangaben) gibt es hier zu lesen: https://www.dasanderemittelalter.net/news/stille-nacht-und-der-vulkan-die-klimageschichte-eines-weihnachtsliedes/

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Wetterkapriolen, die Wissenschaft und der Schwarze Tod (1348)

Das Pestgutachten der Universität Paris

(Der Text diente als Grundlage eines Beitrags für die Sendereihe „Betrifft: Geschichte“ auf Radio Ö1, gestaltet zusammen mit Hanna Ronzheimer und ausgestrahlt am 26. 8. 2021: https://oe1.orf.at/programm/20210826/649348/Auf-den-historischen-Spuren-des-Klimawandels)

Als sich im Jahr 1348 die verheerende Pestpandemie des später so genannten Schwarzen Todes vom Mittelmeer her im Königreich Frankreich ausbreitete, erwartete man auch von der Wissenschaft eine Antwort. Die damals in Europa führende medizinische Fakultät der Universität Paris wurde mit einem Gutachten zur Pest beauftragt. Allerdings zeigten sich die Gelehrten angesichts ihres geringen Wissens um die tatsächlichen Ursachen der Krankheit und mangels eines wirksamen Heilmittels sehr zurückhaltend; ihr Gutachten wagten sie nur als anonyme Schrift der Gesamtfakultät herauszugeben.

Anregungen entnahmen sie den Traktaten des Italieners Gentile de Foligno, der 1348 selbst an der Pest starb. Er folgte bei seinem Erklärungsversuch seit der Antike etablierten Traditionen und führte als eine Ursache der Seuche eine ungünstige Konstellation von Mars, Jupiter und Saturn am 20. März 1345 ins Treffen. Dieses buchstäbliche „Desaster“ im Sinn einer Unordnung der Sterne bewirkte, so da Foligno, eine Verbreitung „verdorbener Winde“ in der Atmosphäre, und „wird ein solcher Pesthauch (…) vom Menschen eingeatmet, sammeln sich giftige Dämpfe um Herz und Lunge, verdichten sich dort zu einer Giftmasse, die diese Organe infiziert, durch die ausgeatmete Luft aber auch Familienangehörige, Gesprächspartner und Nachbarn anstecken kann.“ Immerhin wird hier neben den Verunreinigungen in der Luft auch die Möglichkeit einer Ansteckung von Mensch zu Mensch beschrieben. Diese betraf aber im Fall der Pest nur die seltenere sekundäre Lungenpest, während der weitaus wichtigere Zusammenhang mit der Übertragung durch die Flöhe der Ratten (und wohl auch der Menschen) unerkannt blieb.

Abb. 1 Bestattung von Opfern der Pest 1348 in der Stadt Tournai im heutigen Belgien (Darstellung in « Chroniques et annales de Gilles le Muisit », abbé de Saint-Martin de Tournai, Bibliothèque royale de Belgique, MS 13076-77, f. 24v.; Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Burying_Plague_Victims_of_Tournai.jpg)

Die Medizinische Fakultät von Paris erwog aber auch einen Zusammenhang mit den klimatischen Extremen der vorangehenden Jahre und schrieb: Seit einiger Zeit sind die Jahreszeiten nicht mehr in richtiger Weise aufeinander gefolgt. Der letzte Winter [1347/1348] war nicht so kalt wie er hätte sein sollen, mit viel Regen; der Frühling war windig und zuletzt nass. Der Sommer kam spät, war nicht so heiß wie er hätte sein sollen und extrem nass – das Wetter war von Tag zu Tag und von Stunde zu Stunde sehr wechselhaft. Die Luft war oft unruhig und dann immer wieder so, als würde es regnen, aber dann regnete es nicht. Auch der Herbst war sehr regnerisch und neblig.“

Abb. 2 Treffen von Gelehrten an der Universität Paris, Darstellung des 16. Jahrhunderts (BNF, Français 1537, fol. 27v; Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Meeting_of_doctors_at_the_university_of_Paris.jpg)

Damit dürften die Pariser Mediziner – aber eher zufällig – sogar ins Schwarze getroffen haben. Tatsächlich erweisen neue Baumringdaten, dass die 1340er Jahre in Westeuropa oft ausgesprochen kalt und feucht ausfielen; laut einer aktuellen Temperaturrekonstruktion war der Sommer von 1346 der kälteste des gesamten 14. Jahrhunderts. Solche Witterungsextreme und damit einhergehende Missernten und Unterernährung schwächten die Widerstandskraft der danach von der Seuche betroffenen Bevölkerungen. Die entscheidenden klimatischen Beiträge für den Ausbruch der Pest spielten sich aber weiter entfernt von Westeuropa ab. Schon die Zeitgenossen des 14. Jahrhunderts hatten beobachtet, dass sich die Krankheit aus dem Inneren Eurasiens zu den Hafenstädten am Schwarzen Meer und von dort über die dichten Seehandelswege – dem Pendant zum heutigen globalen Flugverkehr – innerhalb der nächsten Monate im ganzen Mittelmeerraum verbreitet hatte. Wie schon bei der letzten Episode im Zusammenhang mit der Pest des 6. Jahrhunderts erwähnt, existierten und existieren im östlichen Zentralasien Naturpestherde, wo das Pestbakterium unter Nagetierpopulationen bzw. deren Flöhen endemisch ist. Neueste historische und paläogenetische Untersuchungen legen nahe, dass sich dort im 13. Jahrhundert neue, ansteckendere Varianten des Erregers entwickelten und schon Jahrzehnte vor dem Ausbruch des Schwarzen Todes vor allem mit Hilfe der mongolischen Eroberer aus dem Osten in den Westen Eurasiens verbreiteten – etwa zu den Nagetierpopulationen in den Steppen nördlich des Schwarzen Meers.

Abb. 3 Der Übergang von der „Mittelalterlichen Warmzeit“ zur „Kleinen Eiszeit“ im Spätmittelalter in verschiedenen Temperaturrekonstruktionen für die letzten 1000 Jahre (Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:1000_Jahr_Temperaturen-Vergleich.png, mit weiteren Angaben zum Hintergrund dieser Rekonstruktionen)

Dazu begann ab dem späten 13. Jahrhundert ein klimatischer Übergang von der sogenannten Mittelalterlichen Klima-Anomalie zur Kleinen Eiszeit, die mit einer gesteigerten Frequenz extremer Witterungen einherging, wie eben in den 1340er Jahren. Insbesondere ein rascher Wechsel von besonders feuchten zu sehr trockenen Bedingungen begünstigte die Ausbreitung des Pesterregers von wildlebenden Nagetieren auf solche, die in menschlichen Siedlungen leben, wie z. B. Ratten. Die neue Variante des Bakteriums war offenbar auch leichter durch den Menschenfloh übertragbar. Deshalb konnte sie umso mehr von der mit der Verflechtung Eurasiens im Zeichen des Pax Mongolica einhergehenden Steigerung der Mobilität zwischen den Weltregionen profitieren. Wiederkehrende Ausbrüche der Pest begleiteten im Mittelmeerraum auch den Rest der Kleinen Eiszeit, bis zu ihrem allmählichen Ende im 19. Jahrhundert, als auch die beginnende Mikrobiologie den Erreger erstmals eindeutig identifizierte.

Textgrundlage und weitere Literatur: Johannes Preiser-Kapeller, Der Lange Sommer und die Kleine Eiszeit. Klima, Pandemien und der Wandel der Alten Welt von 500 bis 1500 n. Chr. Wien 2021, 283-332.

 

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Die Verdunkelung der Sonne (536 n. Chr.)

Prokop und der Beginn der Spätantiken Kleinen Eiszeit

(Der Text diente als Grundlage eines Beitrags für die Sendereihe „Betrifft: Geschichte“ auf Radio Ö1, gestaltet zusammen mit Hanna Ronzheimer und ausgestrahlt am 25. 8. 2021: https://oe1.orf.at/programm/20210825/649347/Auf-den-historischen-Spuren-des-Klimawandels)   

Im Jahr 2017 veröffentlichte der US-amerikanische Historiker Kyle Harper ein Buch mit dem Titel „The Fate of Rome: Climate, Disease, and the End of an Empire“, das 2020 auch auf Deutsch erschien und zum Bestseller wurde – wohl nicht zuletzt, weil der darin behauptete Zusammenhang zwischen Klimawandel, Pandemien und dem Untergang des Römischen Reichs im Jahr des Coronavirus besonderes Interesse fand. Die beiden letzten Abschnitte seines Buches widmet Harper unter den eindrücklichen Kapiteltiteln „Die Weinpresse des Zorns“ und „Das Jüngste Gericht“ der Pestpandemie, die im 6. Jahrhundert n. Chr. im oströmischen Reich ausbrach, das ja im Gegensatz zum weströmischen Reich weiterbestand.

Tatsächlich konnte sich Harper bei solchen dramatischen Formulierungen mehr oder weniger darauf beschränken, zeitgenössische Beobachter des 6. Jahrhunderts zu zitieren. Sie berichten für das Jahr 536 von einer monatelangen Trübung der Atmosphäre, die die Einstrahlung der Sonne reduzierte. Rückblickend deutete der oströmische Gelehrte Prokop von Kaisareia diese atmosphärische Erscheinung als Beginn einer längeren Zeit der Katastrophen: „Und in diesem Jahr ereignete sich ein furchtbarstes Vorzeichen. Denn ohne Strahlen, wie der Mond, verlor die Sonne das ganze Jahr hindurch ihren Glanz. Sie sah aus, als ob sie größtenteils verschwunden sei, da ihr Funkeln nicht rein und wie gewohnt war. Seitdem sich dies ereignet hatte, ließen weder Krieg noch Seuche noch anderes, was Tod bringt, von den Menschen ab.

Abb. 1 Ein noch viel gewaltigerer Vulkanausbruch als jener des hier dargestellten Eyjafjallajökull auf Island, der 2010 den Flugverkehr in ganz Europa lahmlegte, verursachte den Staubschleier des Jahres 536 (Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Eyjafjallajokull-April-17.JPG)

Der „Staubschleier“ von 536 war ein globales Ereignis und wurde auf der Nordhalbkugel von Irland über den Mittelmeerraum und den Nahen Osten bis China beobachtet. Die damit einhergehende Abkühlung reduzierte in vielen Regionen das Pflanzenwachstum, wie sich an Baumringen ablesen lässt. Über die Ursachen dieses Phänomens wurde in der modernen Forschung lange diskutiert, inklusive Spekulationen über Asteroiden- oder Kometeneinschläge. Nach einer 2015 publizierten Studie gilt aber nun eine heftige vulkanische Eruption auf der Nordhalbkugel um 535/536 als Auslöser, deren Wirkung durch eine weiteren großen Ausbruch im Jahr 540 verstärkt wurde. Wie im „Jahr ohne Sommer“ infolge des Vulkanausbruchs des Tambora in Indonesien 1815 verursachte der Ausstoß großer Mengen an Aerosolen in die Atmosphäre die von Prokop und anderen beobachteten Verfinsterungserscheinungen und weitreichende Witterungsanomalien. Darüber hinaus rekonstruierte man auf der Basis von Baumringen aus dem Alpenraum und dem russischen Altai, dass die Doppeleruption von 536/540 gemeinsam mit einer Verringerung der Sonnenaktivität das „Kippen“ der Klimaverhältnisse auf der Nordhalbkugel in eine dauerhaft kältere Periode beschleunigte, die von 536 bis 660 anhielt und nun als „Spätantike Kleine Eiszeit“ bezeichnet wird.

Abb. 2 Das Signal der Abkühlung des Jahres 536 und der folgenden Jahrzehnte in Baumringdaten aus den Alpen (blau) und des russischen Altai (rot) (aus: Ulf Büntgen u. a., Cooling and societal change during the Late Antique Little Ice Age from 536 to around 660 AD. Nature Geoscience 9 (2016), 231–236; https://doi.org/10.1038/ngeo2652)

Eine der vermuteten Folgen dieses Klimaumschwungs war eine Veränderung der Witterungsparameter in jenen Regionen Zentralasiens, in denen der Pesterreger unter Nagetier-Populationen endemisch war (und bis heute ist). Dies begünstigte die Ausbreitung des Bakteriums und seiner tierischen Wirte und letztlich sein Überspringen auf den Menschen. Über die Fernhandelsrouten verbreitete sich die Seuche in den Nahen Osten, den Mittelmeerraum und nach Europa, wo sie in Wellen über 200 Jahre bis Mitte des 8. Jahrhunderts wiederkehrte. Der Weg des Erregers aus dem Osten in den Westen Eurasiens lässt sich mittlerweile auch mit Hilfe von paläogenetischen Untersuchungen verfolgen, die selbst nach mehr als 1400 Jahren Spuren einer Variante des Bakteriums Yersinia pestis in den Skeletten von Opfern der Krankheit nachweisen konnten.

Abb. 3 Karte der möglichen Ursprungsregion und Verbreitungswege der Pestpandemie des 6. Jahrhunderts n. Chr. (Karte: J. Preiser-Kapeller, ÖAW, 2020)

Jedoch ist die genaue Zahl dieser Opfer umstritten. Kyle Harper geht, auch in Analogie zur besser dokumentierten Pestpandemie des Spätmittelalters (dem „Schwarzen Tod“), davon aus, dass durch die Pest ab 541 ein Drittel oder sogar die Hälfte der Bevölkerung des oströmischen Reiches starb. Demgegenüber versuchte eine Gruppe jüngerer Forscher um Lee Mordechai und Merle Eisenberg unter Verweis auf verschiedene quantitative Parameter zu belegen, dass die Seuche im 6. Jahrhundert nicht jene gewaltige Katastrophe war, die zeitgenössische Beobachter in ihren drastischen Schilderungen nahelegen.

Doch selbst wenn die Letalität der Seuche geringer war, als angenommen, dann sind auch die sozialen, ökonomischen und psychologischen Folgen der Verunsicherung der Menschen und der Störung des normalen Alltags zu berücksichtigen. Dies scheint angesichts der selbst in unserer modernen Gesellschaft mit dem weit weniger letalen Corona-Virus einhergehenden Verwerfungen umso mehr relevant – wenn man noch dazu bedenkt, dass die Menschen des 6. Jahrhunderts über Ursache und Verbreitungswege der Krankheit völlig im Unklaren waren. Umso eher entstanden im oströmischen Reich Verschwörungstheorien, die sich gegen damals ohnehin ausgegrenzte Randgruppen wie Heiden, Häretiker, Juden oder Homosexuelle richteten – ein Muster, dass sich danach bei vielen Pandemien, selbst heutzutage, wiederholen sollte.

Textgrundlage und weitere Literatur: Johannes Preiser-Kapeller, Der Lange Sommer und die Kleine Eiszeit. Klima, Pandemien und der Wandel der Alten Welt von 500 bis 1500 n. Chr. Wien 2021, 29-73.

 

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Theophrast und die gefrorenen Trauben (330 v. Chr.)

Gab es schon in der Antike einen menschengemachten Klimawandel?

(Der Text diente als Grundlage eines Beitrags für die Sendereihe „Betrifft: Geschichte“ auf Radio Ö1, gestaltet zusammen mit Hanna Ronzheimer und ausgestrahlt am 24. 8. 2021: https://oe1.orf.at/programm/20210824/649346/Auf-den-historischen-Spuren-des-Klimawandels)  

Dass die aktuelle, rasant voranschreitende globale Erwärmung zu einem überwiegenden Teil von menschlichen Aktivitäten verursacht wird, hat die Wissenschaft eindeutig erwiesen. Doch wie sieht es mit klimatischen Veränderungen vor dem Zeitalter der Industrialisierungen aus? Dass der Mensch schon damals zumindest auf lokaler Ebene einen Einfluss auf das Klima nehmen konnte, deutet um 330 v. Chr. der griechische Philosoph Theophrast, ein Schüler des Platon und Aristoteles, an. Er schreibt: „Im Land um die Stadt Larissa in Thessalien (einer Region in Mittelgriechenland) herum war früher, als es dort viel stehendes Wasser gab und die Ebene ein einziger See war, die Luft dicker und das Land wärmer. Nun aber, da man die Fläche entwässert hat und man das Wasser daran hindert, sich wieder zu sammeln, ist das Land kälter geworden, und es gibt häufiger Frost als früher. Als Beleg dafür mag dienen, dass es früher direkt in der Stadt und auch in ihrem Umland ausgezeichnete Ölbäume gab, während man jetzt nirgends welche sieht; und dass Weinreben früher nie Frost litten, dies heutzutage aber häufig geschieht.

Abb. 1 Karte der erwähnten Städte und Regionen im antiken Griechenland (erstellt mit GoogleEarth)

Eine Veränderung des Klimas beobachtet Theophrast auch für das nördlich benachbarte Makedonien, die er auf die Rodung von Wäldern zurückführt. Dort wurde, so beschreibt er, die Witterung allerdings wärmer, und Winterfroste blieben im Gegensatz zu Thessalien aus. Der deutsche Althistoriker Werner Tietz bemerkt dazu, dass Theophrast vermutlich in beiden Fällen richtiglag. Im bergigen Makedonien blies der Wind die Kälte nach den Rodungen aus den Niederungen, während derselbe Wind im ebenen Thessalien eine ohne Bäume weitgehend ungeschützte Landschaft vorfand und die früheren großen Wasserflächen auch nicht mehr zur Abmilderung des Frosts beitrugen.

Ein Grund für die Rodungen war neben der Gewinnung von Ackerland der Bedarf an Bauholz für die Handels- und Kriegsflotten der zahlreichen griechischen Staaten, die in einem ständigen Wettstreit miteinander lagen. Eine führende Stellung nahm dabei Athen ein, das mit 40 000 Einwohnern in der Stadt und weiteren 250 000 im Umland die größte Metropole der Ägäis war. Auch für Athen schildert Platon, der Lehrer des Theophrast, in seiner Schrift „Kritias“ eine dramatische Veränderung der Landschaft. Infolge der Abschwemmung des fruchtbaren Bodens, so schreibt er, sind „nur mehr die Knochen des erkrankten Körpers (…) vorhanden, (…). Früher waren die Talgründe (…) mit fetter Erde bedeckt, und die Berge bekränzten dichte Waldungen. (…) Auch trug der Boden viele andere, hohe Fruchtbäume und bot den Herden ergiebige Weide. Dem Boden gab das im Laufe des Jahres von Zeus entsandte Wasser Gedeihen, welches ihm nicht verloren ging, während es sich jetzt bei dem kahlen Boden in das Meer ergießt. Indem der Boden viel Erde besaß, in die er das Wasser aufnahm und es in einer schützenden Tonschicht verteilte, entließ er das von den Höhen eingesogene Wasser in die Talgründe und gewährte nach allen Seiten reichliche Bewässerung durch Flüsse und Quellen.

Abb. 2 Darstellung der griechischen Philosophen Platon und Theophrast auf einem Kupferstich des 17. Jahrhunderts (Quelle: J. v. Sandrart, Teutsche Academie, Nürnberg 1675–1679)

Ähnliche Prozesse wie jene, die Platon beschreibt und die zu verkarsteten, kahlen oder mit niedrigen Gebüschformationen bewachsenen Landschaftsformen führten, wurden für viele Regionen des Mittelmeerraums als Folge der antiken Übernutzung von Wäldern gedeutet. Jedoch erwiesen jüngere Untersuchungen große Unterschiede zwischen den mediterranen Regionen, von denen einige mehrere Phasen der Ent-, aber auch erneuten Bewaldung seit dem Beginn der landwirtschaftlichen Nutzung vor ca. 7000 Jahren erlebten. Der entscheidende Schritt zum jetzigen erodierten Zustand wurde oft erst mit dem demographischen und ökonomischen Wachstum des 19. und 20. Jahrhunderts gesetzt und kann nicht antikem Raubbau zugeschrieben werden. Die „Mega-City“ Athen mag aber auch schon damals ein Sonderfall besonders intensiver und weniger nachhaltiger Nutzung des Umlandes gewesen sein.

Abb. 3 Reste einer antiken Metallverhüttungsanlage im Laurion-Gebirge südöstlich von Athen; der dortige Silberbergbau trug mit seinem Holzbedarf zur Entwaldung Attikas bei (Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ancient_metal_workshop_(KORDELLA).JPG?uselang=de)

Doch beeinflusste der Mensch das Klima auch jenseits der regionalen Ebene bereits vor der Industrialisierung? Diese These stellte zumindest 2003 der US-amerikanische Paläoklimatologe William F. Ruddiman auf. Er vermutete, dass schon mit der Entwicklung von Ackerbau und Viehzucht die Menschen zu einem vor 7000 Jahren beginnenden allmählichen Anstieg der Konzentration der Treibhausgase Kohlendioxid und Methan beitrugen. Dies hätte den seit dem Ende der letzten Eiszeit vor 10 000 Jahren einsetzenden wärmeren Klimatrend stabilisierte. Im Gegensatz zum gegenwärtigen, viel dramatischeren Anstieg von CO2 und Methan in der Atmosphäre, der auf die Folgen menschlicher Aktivitäten zurückgeführt wird, konnte ein solch viel früherer Zusammenhang aber bislang nicht erwiesen werden. Zweifelsohne steigerten Sesshaft-Werdung und Landwirtschaft jedoch die Verwundbarkeit menschlicher Gemeinschaften gegenüber klimatischen Schwankungen. Und die damit einhergehende Veränderung von Ökozonen und das engere Zusammenleben von Mensch und Tier begünstigten die Entstehung neuer Infektionskrankheiten. Dieser Konnex von menschlicher Expansion, Klimawandel und Pandemien begann tatsächlich schon vor 10 000 Jahren.

Textgrundlage und weitere Literatur: Johannes Preiser-Kapeller, Die erste Ernte und der große Hunger. Klima, Pandemien und der Wandel der Alten Welt bis 500 n. Chr. Wien 2021, 182-187.

 

 

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