Die Verdunkelung der Sonne (536 n. Chr.)

Prokop und der Beginn der Spätantiken Kleinen Eiszeit

(Der Text diente als Grundlage eines Beitrags für die Sendereihe „Betrifft: Geschichte“ auf Radio Ö1, gestaltet zusammen mit Hanna Ronzheimer und ausgestrahlt am 25. 8. 2021: https://oe1.orf.at/programm/20210825/649347/Auf-den-historischen-Spuren-des-Klimawandels)   

Im Jahr 2017 veröffentlichte der US-amerikanische Historiker Kyle Harper ein Buch mit dem Titel „The Fate of Rome: Climate, Disease, and the End of an Empire“, das 2020 auch auf Deutsch erschien und zum Bestseller wurde – wohl nicht zuletzt, weil der darin behauptete Zusammenhang zwischen Klimawandel, Pandemien und dem Untergang des Römischen Reichs im Jahr des Coronavirus besonderes Interesse fand. Die beiden letzten Abschnitte seines Buches widmet Harper unter den eindrücklichen Kapiteltiteln „Die Weinpresse des Zorns“ und „Das Jüngste Gericht“ der Pestpandemie, die im 6. Jahrhundert n. Chr. im oströmischen Reich ausbrach, das ja im Gegensatz zum weströmischen Reich weiterbestand.

Tatsächlich konnte sich Harper bei solchen dramatischen Formulierungen mehr oder weniger darauf beschränken, zeitgenössische Beobachter des 6. Jahrhunderts zu zitieren. Sie berichten für das Jahr 536 von einer monatelangen Trübung der Atmosphäre, die die Einstrahlung der Sonne reduzierte. Rückblickend deutete der oströmische Gelehrte Prokop von Kaisareia diese atmosphärische Erscheinung als Beginn einer längeren Zeit der Katastrophen: „Und in diesem Jahr ereignete sich ein furchtbarstes Vorzeichen. Denn ohne Strahlen, wie der Mond, verlor die Sonne das ganze Jahr hindurch ihren Glanz. Sie sah aus, als ob sie größtenteils verschwunden sei, da ihr Funkeln nicht rein und wie gewohnt war. Seitdem sich dies ereignet hatte, ließen weder Krieg noch Seuche noch anderes, was Tod bringt, von den Menschen ab.

Abb. 1 Ein noch viel gewaltigerer Vulkanausbruch als jener des hier dargestellten Eyjafjallajökull auf Island, der 2010 den Flugverkehr in ganz Europa lahmlegte, verursachte den Staubschleier des Jahres 536 (Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Eyjafjallajokull-April-17.JPG)

Der „Staubschleier“ von 536 war ein globales Ereignis und wurde auf der Nordhalbkugel von Irland über den Mittelmeerraum und den Nahen Osten bis China beobachtet. Die damit einhergehende Abkühlung reduzierte in vielen Regionen das Pflanzenwachstum, wie sich an Baumringen ablesen lässt. Über die Ursachen dieses Phänomens wurde in der modernen Forschung lange diskutiert, inklusive Spekulationen über Asteroiden- oder Kometeneinschläge. Nach einer 2015 publizierten Studie gilt aber nun eine heftige vulkanische Eruption auf der Nordhalbkugel um 535/536 als Auslöser, deren Wirkung durch eine weiteren großen Ausbruch im Jahr 540 verstärkt wurde. Wie im „Jahr ohne Sommer“ infolge des Vulkanausbruchs des Tambora in Indonesien 1815 verursachte der Ausstoß großer Mengen an Aerosolen in die Atmosphäre die von Prokop und anderen beobachteten Verfinsterungserscheinungen und weitreichende Witterungsanomalien. Darüber hinaus rekonstruierte man auf der Basis von Baumringen aus dem Alpenraum und dem russischen Altai, dass die Doppeleruption von 536/540 gemeinsam mit einer Verringerung der Sonnenaktivität das „Kippen“ der Klimaverhältnisse auf der Nordhalbkugel in eine dauerhaft kältere Periode beschleunigte, die von 536 bis 660 anhielt und nun als „Spätantike Kleine Eiszeit“ bezeichnet wird.

Abb. 2 Das Signal der Abkühlung des Jahres 536 und der folgenden Jahrzehnte in Baumringdaten aus den Alpen (blau) und des russischen Altai (rot) (aus: Ulf Büntgen u. a., Cooling and societal change during the Late Antique Little Ice Age from 536 to around 660 AD. Nature Geoscience 9 (2016), 231–236; https://doi.org/10.1038/ngeo2652)

Eine der vermuteten Folgen dieses Klimaumschwungs war eine Veränderung der Witterungsparameter in jenen Regionen Zentralasiens, in denen der Pesterreger unter Nagetier-Populationen endemisch war (und bis heute ist). Dies begünstigte die Ausbreitung des Bakteriums und seiner tierischen Wirte und letztlich sein Überspringen auf den Menschen. Über die Fernhandelsrouten verbreitete sich die Seuche in den Nahen Osten, den Mittelmeerraum und nach Europa, wo sie in Wellen über 200 Jahre bis Mitte des 8. Jahrhunderts wiederkehrte. Der Weg des Erregers aus dem Osten in den Westen Eurasiens lässt sich mittlerweile auch mit Hilfe von paläogenetischen Untersuchungen verfolgen, die selbst nach mehr als 1400 Jahren Spuren einer Variante des Bakteriums Yersinia pestis in den Skeletten von Opfern der Krankheit nachweisen konnten.

Abb. 3 Karte der möglichen Ursprungsregion und Verbreitungswege der Pestpandemie des 6. Jahrhunderts n. Chr. (Karte: J. Preiser-Kapeller, ÖAW, 2020)

Jedoch ist die genaue Zahl dieser Opfer umstritten. Kyle Harper geht, auch in Analogie zur besser dokumentierten Pestpandemie des Spätmittelalters (dem „Schwarzen Tod“), davon aus, dass durch die Pest ab 541 ein Drittel oder sogar die Hälfte der Bevölkerung des oströmischen Reiches starb. Demgegenüber versuchte eine Gruppe jüngerer Forscher um Lee Mordechai und Merle Eisenberg unter Verweis auf verschiedene quantitative Parameter zu belegen, dass die Seuche im 6. Jahrhundert nicht jene gewaltige Katastrophe war, die zeitgenössische Beobachter in ihren drastischen Schilderungen nahelegen.

Doch selbst wenn die Letalität der Seuche geringer war, als angenommen, dann sind auch die sozialen, ökonomischen und psychologischen Folgen der Verunsicherung der Menschen und der Störung des normalen Alltags zu berücksichtigen. Dies scheint angesichts der selbst in unserer modernen Gesellschaft mit dem weit weniger letalen Corona-Virus einhergehenden Verwerfungen umso mehr relevant – wenn man noch dazu bedenkt, dass die Menschen des 6. Jahrhunderts über Ursache und Verbreitungswege der Krankheit völlig im Unklaren waren. Umso eher entstanden im oströmischen Reich Verschwörungstheorien, die sich gegen damals ohnehin ausgegrenzte Randgruppen wie Heiden, Häretiker, Juden oder Homosexuelle richteten – ein Muster, dass sich danach bei vielen Pandemien, selbst heutzutage, wiederholen sollte.

Textgrundlage und weitere Literatur: Johannes Preiser-Kapeller, Der Lange Sommer und die Kleine Eiszeit. Klima, Pandemien und der Wandel der Alten Welt von 500 bis 1500 n. Chr. Wien 2021, 29-73.