Der Himmel über Karl dem Großen: Verdunkelungen, Klimaschwankungen und Sonnenstürme um 800 n. Chr.

Eine neue Studie zweier Wiener Historiker ergründet atmosphärische und klimatische Phänomene rund um die großen politischen Umwälzungen im frühmittelalterlichen Europa

Die Krönung Karl des Großen zum Kaiser der Römer am 25. Dezember 800 wird oft als Ende eines „Dunklen Zeitalters“ gedeutet, das nach dem Untergang des Weströmischen Reichs im 5. Jahrhundert in Westeuropa begonnen hätte. Der Anspruch Karls auf den Kaisertitel wurde mit der Absetzung des oströmischen Kaisers Konstantin VI. in Konstantinopel im August 797 und der folgenden Regierung seiner Mutter Irene (die als Frau in den Augen mancher Zeitgenossen nicht als legitimer „Kaiser“ galt) gerechtfertigt. Den Sturz Konstantins, dem man auch das Augenlicht raubte, begleitete nach Angaben der wichtigsten Chronik eine „Verdunkelung“ der Sonne, die 17 Tage lang anhielt und göttliches Missfallen über den Angriff auf den Kaiser anzeigte.

Die Forschung hat diese Schilderung bislang meist als literarische Erfindung oder als übertriebene Darstellung einer zeitnah zur Blendung stattgefundenen Sonnenfinsternis abgetan. Diese Erklärung erschien Johannes Preiser-Kapeller von der Abteilung Byzanzforschung des Instituts für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Ewald Kislinger vom Institut für Byzantinistik und Neogräzistik der Universität Wien nicht überzeugend. In einer fast zweijährigen Detektivarbeit untersuchten sie deshalb nicht nur alle verfügbaren Schriftzeugnisse für die Zeit um 797 von Irland bis Syrien und vom Rheinland bis nach Süditalien nach Hinweisen, sondern auch neueste naturwissenschaftliche Befunde, darunter Daten aus Eisbohrkernen in Grönland und aus mehr als 1000 Jahre alten Baumringen in Nordskandinavien und den Schweizer Alpen.

Dabei stießen sie nicht nur auf Belege von Sonnenfinsternissen, sondern auch von massiven Sonnenstürmen, die für das Auftreten von Nordlichtern bis weit nach Süden im Gebiet der heutigen Südosttürkei sorgten. Daneben suchten Feuerbrünste, Erdbeben und Seuchen (bei Mensch und Vieh) Europa und den Mittelmeerraum in diesen Jahrzehnten heim. Gewaltige Vulkanausbrüche trugen mehrfach zu Kaltanomalien bei, die zu Missernten und sogar zum Zufrieren des Bosporus rund um Konstantinopel führten. Die bei solchen Eruptionen in die Atmosphäre ausgestoßenen Ascheteilchen trübten manchmal für Wochen oder Monate das Sonnenlicht; dies war vermutlich auch der physikalische Hintergrund für die beim Sturz des Kaisers Konstantins VI. 797 beschriebene Verdunkelung.

Karl der Große profitierte nicht nur von der Schwächung des Kaisertums in Konstantinopel, sondern auch von der bei manchen Zeitgenossen spürbaren, durch spektakuläre Naturereignisse gesteigerten Endzeitstimmung, die nach einer Erneuerung des in Ostrom „verdunkelten“ Kaisertums durch einen „starken Mann“ verlangen zu schien. Darüber hinaus hatte das byzantinische Kaisertum auch durch Maßnahmen gegen die Verehrung der heiligen Ikonen („Bildersturm“) unter den Vorgängern Irenes in den Augen der westlichen Christenheit an Legitimation verloren. Dieses dynamische Wechselspiel zwischen politischen Umwälzungen, atmosphärischen und klimatischen Phänomenen und deren Deutung konnte von Preiser-Kapeller und Kislinger nur durch die interdisziplinäre Analyse der historischen und naturwissenschaftlichen Befunde ergründet werden.

Ihre Ergebnisse wurden unter dem Titel „The sun was darkened for seventeen days (AD 797). An interdisciplinary exploration of a celestial phenomena between Byzantium, Charlemagne, and a volcanic eruption“ in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift „Medieval Worlds“ (Nr. 17; Dezember 2022) frei zugänglich publiziert: https://doi.org/10.1553/medievalworlds_no17_2022s3

Überblickskarte zu den vulkanischen und atmosphärischen Phänomenen rund um das Jahr 800 und die dafür vorliegenden historischen und naturwissenschaftlichen Daten (J. Preiser-Kapeller, ÖAW, 2022)

 

Ausgewählte politische Ereignisse, Vorzeichen und Naturphänomene im 8. bis 9. Jh.

Datum

Ereignis oder Phänomen

(Möglicher) natürlicher Hintergrund

726

Großer Vulkanausbruch auf Thera (Santorini) in der südlichen Ägäis, der angeblich Kaiser Leon III. zu ersten Maßnahmen gegen die Verehrung heiliger Bilder bewegt

 

746, März-April

Verdunkelung der Sonne in Syrien und Mesopotamien

Atmosphärische Trübung (nach einem Vulkanausbruch oder Staubstürmen)

747 oder 748, April

Geburt Karls des Großen

 

747, August

Verdunkelung der Sonne in Syrien und Mesopotamien

Atmosphärische Trübung (nach einem Vulkanausbruch oder Staubstürmen)

747/747

Letzte Ausbrüche der Ersten Pestpandemie in Konstantinopel und im Kalifat

 

ca. 752

Geburt der Eirene

 

754

Kirchenkonzil von Hiereia bei Konstantinopel unter dem Vorsitz von Kaiser Konstantin V., Beschluss von Maßnahmen gegen die Verehrung heiliger Bilder

 

762/764

Sulfatspitze in Eisbohrkernen in Grönland

Großer Vulkanausbruch

763-764, Winter

Extreme Winterkälte in ganz Europa, Zufrieren von Teilen des Schwarzen Meeres und des Bosporus um Konstantinopel

Klimaanomalie nach einem Vulkanausbruch

764, März

„Sternenfall“ in Konstantinopel

Meteoritenschauer?

767, Sommer

Schwere Dürre um Konstantinopel

 

768, 9. Oktober

Regierungsantritt Karls des Großen im Frankenreich

 

769

Hochzeit von Eirene mit Leon (IV.), Sohn von Kaiser Konstantin V.

 

771, 14. Jänner

Geburt des Konstantin VI.

 

773/774

Karl der Große erobert das Langobardenreich in Norditalien

 

774/775

Sichtungen von Polarlichtern weit im Süden bis Amida in Nordmesopotamien

Massive Eruption der Sonne ("774/775 event")

775, 14. September

Tod von Kaiser Konstantin V., Thronbesteigung von Leon IV.

 

780, 8. September

Tod von Kaiser Leon IV., Thronbesteigung von Konstantin VI. und von Eirene (als Mitkaiserin)

 

787, 16. September

Sonnenfinsternis, teilweise sichtbar in Konstantinopel

 

787, 24. September-23. Oktober

Zweites Konzil von Nikaia unter dem Vorsitz von Konstantin VI. und Eirene, die Verehrung heiliger Bilder wird wieder gestattet

 

787/800

Vulkanausbrüche des Vesuvs bei Neapel und des Monte Pilato auf den Liparischen Inseln

 

790, Februar

Streit zwischen Konstantin VI. und Eirene, Erdbeben in Konstantinopel

 

790, Oktober

Konstantin VI. setzt Eirene im Palast des Eleutherios fest, Feuersbrunst in Konstantinopel

 

792, August

Kaiser Konstantin VI. befiehlt nach einem Putschversuch die Blendung seiner Onkel väterlicherseits

 

792, 25. Dezember

Aufstand der Truppen der Armeniakoi gegen Konstantin VI., Feuersbrunst in Konstantinopel

 

792-794

Schlechtwetterperioden und Missernten im Frankenreich

Klimaanomalie (vielleicht nach einem Vulkanausbruch?)

795, September

Konstantin VI. trennt sich von seiner ersten Frau Maria und heiratet Theodote

 

796, April-Mai

Erdbeben auf Kreta und später in Konstantinopel

 

ca. 796

Ammoniumspitze in Eisbohrkernen in Grönland

Großflächige Waldbrände in Nordamerika?

797, 3. März

Sonnenfinsternis, teilweise sichtbar in Konstantinopel

 

797, Juli-798, Juli

Planet Mars am Nachthimmel im Frankenreich nicht sichtbar

Konjunktion des Mars

797, August

Blendung von Kaiser Konstantin VI. in Konstantinopel, „Verdunkelung der Sonne“ für 17 Tage

Atmosphärische Trübung nach einem Vulkanausbruch

799, 25. April

Blendung von Papst Leo III. in Rom

 

799/800

Sulfatspitze in Eisbohrkernen in Grönland

Großer Vulkanausbruch

800

Extreme Sommerkälte in Baumringen in Skandinavien und der Schweiz bemerkbar, Junifrost im Rheinland, extreme Dürre im Reich der Uiguren (Mongolei)

Klimaanomalie nach einem Vulkanausbruch

800, 25. Dezember

Krönung Karls des Großen zum Kaiser der Römer in Rom durch Papst Leo III.

 

800-801, Winter

Stürme in England, milder Winter im Rheinland, strenger Winter in Katalonien

Klimaanomalie nach einem Vulkanausbruch

801, Frühling

Epidemien bei Rindern und Menschen in England und im Rheinland

 

802, Oktober

Sturz der Kaiserin Eirene durch Nikephoros I., Schlechtwetter in Konstantinopel

 

803, 9. August

Tod von Eirene im Exil auf Lesbos

 

809/810

Schwere Seuche bei Rindern und Pferden im Reich Karls des Großen; Tod des Karl dem Großen von Kalif Harun ar-Raschid übermittelten Elefanten

 

812, 14. Mai

Sonnenfinsternis, teilweise sichtbar in Konstantinopel

 

813, 4. Mai

Sonnenfinsternis, teilweise sichtbar in Konstantinopel

 

814, 28. Jänner

Tod Karls des Großen in Aachen

 

822

Sulfatspitze in Eisbohrkernen in Grönland, extreme Kälte in Irland

Klimaanomalie nach einem Vulkanausbruch (Katla auf Island)

Aus: Johannes Preiser-Kapeller und Ewald Kislinger, "The sun was darkened for seventeen days (AD 797)". An interdisciplinary exploration of celestial phenomena between Byzantium, Charlemagne, and a volcanic eruption. Medieval Worlds 17 (2022), https://doi.org/10.1553/medievalworlds_no17_2022s3.