Creative destruction – die Kosten der Innovation

Live Keynote für das 4GAMECHANGERS-Festival von Puls24 und ORF, 28. Juni 2022

Video: https://www.puls24.at/video/4gamechangers/4gamechangers-festival-creative-destruction-die-kosten-der-innovation/v-cl0aknqznp15

Follow up-Interview:  https://www.puls24.at/video/4gamechangers/4gamechangers-festival-johannes-preiser-kapeller-im-interview/v-cl0aknqz6dkp

„Technologie bringt Anarchie“. Deshalb beschließt im vierten Band der Wüstenplanet-Reihe von Frank Herbert der unsterbliche Gottkaiser, die Entwicklung der Menschheit für mehr als 3000 Jahre einzufrieren. Innovationen werden verboten, technischer Fortschritt findet nicht mehr statt.

Tatsächlich können wir solche Versuche der Exnovation in der Geschichte der Menschheit entdecken. Ab den 1540er Jahren trug die Einführung von Feuerwaffen durch europäische Händler in Japan zu einer Verschärfung der inneren Konflikte und jahrzehntelangen Bürgerkriege bei. Gewaltige Armeen wurden mobilisiert, große Landstriche wurden verwüstet. Erst nach 60 Jahren setzten sich einige Anführer durch und übernahmen als Shogune die Macht im Land. Sie verfügten eine Einschränkung der importierten Innovation. Die meisten Menschen mussten ihre Feuerwaffen abgeben, diese wurden in Statuen Buddhas umgeschmolzen. Büchsenmacher durften nur mehr an einigen ausgewählten Orten unter strenger Aufsicht leben und arbeiten. Eine Weiterentwicklung der Waffe war ihnen verboten.

Erst als um die Mitte des 19. Jahrhunderts das Vordringen neuer imperialer Mächte drohte, Japan zu einer Kolonie zu machen, öffnete sich das Land wieder für diese Leitinnovation der Neuzeit und führte eine moderne Armee mit den neuesten Waffen ein. Der Preis für diese Neuerung war der Zusammenbruch der Gesellschaftsordnung, die über zwei Jahrhunderte von der Einhegung dieser Entwicklungen profitiert hatte. Die Samurai wurden entweder Soldaten in der neuen modernen Armee oder verschwanden. Immerhin durften sie ihre Schwerter auch in die neuen, viel zerstörerischen Kriegsmaschinen mitnehmen, bis hin zu den Kamikaze-Fliegern im Zweiten Weltkrieg.

Während des Zweiten Weltkriegs, im Jahr 1942, formulierte der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter auch sein Konzept der „kreativen“, der „schöpferischen Zerstörung“. Er schrieb, dass durch Innovationen befeuerte Veränderungen der Wirtschaftsweise zu einem Zusammenbruch, zu einer Zerstörung bestehender Strukturen und Produktionsformen beitragen würden. Und dies sei notwendig, um die Effizienz und das Wachstum der Wirtschaft zu gewährleisten.

Schumpeter und andere Ökonomen nahmen an, dass solche schöpferische Zerstörungen erst mit dem Beginn der modernen Industrialisierung und des Kapitalismus vor 200 Jahren starteten und sich alle paar Jahrzehnte in Wellen vollzogen, festgemacht an Leitinnovationen wie der Dampfmaschine, der Eisenbahn, dem Verbrennungsmotor oder zuletzt dem Mikrochip. Klar wird dabei, dass Innovationen nicht nur als Antworten auf Herausforderungen oder Krisen entstehen, sondern ihrerseits die Wurzeln neuer Krisen werden. Denn in jenen Produktionszweigen, die in diesen Akten schöpferische Zerstörung verdrängt und vernichtet werden, kann es zu Massenarbeitslosigkeit, zu sozialem Elend und zu Krisen kommen, die die betroffenen Gesellschaften schwer erschüttern.

In der Langzeitperspektive verstehen wir auch erst jetzt, dass die Abhängigkeit der Leitinnovationen des 19. Jahrhunderts von der Verbrennung fossiler Brennstoffe die Ursache jener Klimakrise ist, mit der wir heute konfrontiert sind.

Der deutsche Soziologe Ulrich Beck schrieb in seinem Buch „Risikogesellschaft“, dass in der modernen Gesellschaft die Produktion von Reichtum und Wohlstand immer mehr mit der Produktion von ungeplanten und unerwarteten Risiken einhergeht, die die gesamte Gesellschaft betreffen. Nicht zufällig erschien dieses Buch 1986 im Jahr der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Auch Japan begab sich mit der Öffnung gegenüber den Innovationen der Industrialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts auf diesen Pfad einer Risikogesellschaft, der 2011 im Reaktorunfall von Fukushima einen neuen Gipfel erreichte.

In meiner Forschung versuche ich dieses Konzept der Risikogesellschaft auf die letzten 10000 Jahre seit dem Beginn der neolithischen Revolution auszudehnen. Denn schon mit dem Übergang zur Landwirtschaft und einer sesshaften Lebensform entstanden für menschliche Gemeinschaften neue Abhängigkeiten vom Ertrag ihrer Ackerfrüchte und neue Verwundbarkeiten gegenüber klimatischen Schwankungen, Schädlingen und anderen Faktoren. Ebenso trug das engere Zusammenleben zwischen Menschen und den von ihnen domestizierten Haustieren dazu bei, dass es für Krankheitserreger leichter wurde, die Barriere zwischen den Spezies zu überwinden. Wie paläogenetische Forschung in den letzten Jahren zeigt, sind viele der Infektionskrankheiten, die uns bis heute plagen, erst in den Jahrtausenden seit diesem essenziellen Kulturwandel entstanden. Diese Krankheitserreger wanderten auch als ungebetene Gäste auf den Handelsrouten zu Lande und zu Wasser, über die sich verschiedene Weltgegenden immer enger miteinander verbanden, und sorgten für Pandemien.

Klar wird damit: menschlicher Fortschritt und Innovation sind nicht ohne Risiko möglich. Ja Risiko ist vielleicht sogar ein Anreiz dafür, die Fahrt über den Ozean zu wagen. Wir sollten aber in der Bewunderung etwa für einen Christoph Kolumbus nicht vergessen, dass seine „Entdeckung“ einen Prozess der Auslagerung der sozialen und ökologischen Kosten des wirtschaftlichen Wachstums Westeuropas in ein immer größeres Übersee einläutete, wo „billige Natur“ und „billige Arbeitskraft“ selbst in der Form von Sklaverei ausgebeutet wurden. Und bis heute tragen auch die Überreste unserer neuesten Innovationen in Gestalt von Elektroschrott zur Verwüstung von Landstrichen und Gemeinschaften in ganz Westafrika bei. Zu lange hat auch die Geschichtsforschung fragwürdige Helden verehrt, deren Leistungen zum Nutzen weniger, aber zum Elend vieler beitrugen – und erst in den letzten Jahren sind manche ihrer Monumente gestürzt worden.

Ich möchte hier nicht als Spielverderber für die GameChanger auftreten. Innovation ist essentiell für den menschlichen Fortschritt, und Erfindungsreichtum sollte belohnt und bewundert werden. Wie uns die Technikfolgen-Abschätzung lehrt, ist „technischer Fortschritt nötig, um die negativen Folgen der älteren Technik zu überwinden,“ Doch auch diese Innovationen werden „nicht nur erwünschte, sondern auch nicht intendierte, teils überraschende und oft unerwünschte und problematische Folgen“ haben. Allerdings verfügen wir nicht über einen allwissenden Gottkaiser, der alle möglichen mittel- und langfristigen Auswirkungen, Kosten und Risiken einschätzt.

Aber vielleicht können wir uns darauf einigen, die Regeln des Spiels dahingehend zu ändern, dass sein Zeithorizont nicht dort endet, wo alle Profite verteilt, alle Patente ausgelaufen und Gewährleistungsfristen verjährt sind. Der Technikphilosoph Bernhard Irrgang plädiert für eine „Langzeitverantwortung“ als Kennzeichen einer nachhaltigen Entwicklung. Für einen Innovator genügt es nicht zu behaupten, „wo ich bin, ist vorne“ – und hinter mir die Sintflut. Dennoch ist „Langzeitverantwortung“ ein hochtrabender Begriff. Aber vielleicht können wir uns im Eigeninteresse darauf verständigen, dass wir uns in einem Legacy-Spiel befinden, wo jede Veränderung im Spiel nachhaltig auch den Spielplan verändert – für alle, die im Spiel miteinander verbunden sind, mit dauerhaften Auswirkungen auf jede folgende Partie, die gespielt wird. Die Geschichtsforschung erklärt, warum der Spielplan so aussieht, wie er jetzt aussieht – aber macht ebenso darauf aufmerksam, dass in diesem Spiel immer ungefragt sehr viel mehr Menschen verwickelt waren, als jene, die das Spiel vorantreiben. In der modernen global vernetzten Technosphäre sind dies alle 8 Milliarden Menschen auf unserem Planeten.

Somit hat jede Entscheidung, jede Wahl der Spieler nicht nur Auswirkungen auf ihren eigenen Entwicklungspfad, sondern auf den Entwicklungspfad aller in diesem Spiel auch ungefragt vernetzten Menschen. Umso sorgfältiger müssen wir zumindest versuchen, auszuloten, welcher Pfad mit welchen möglichen Auswirkungen verknüpft ist – in einem Zeithorizont, der über Kreditlaufzeiten und Legislaturperioden hinaus reicht, bis hin zum Ende dieses Jahrhunderts, ja vielleicht sogar in jene Zeiträume, die der Gottkaiser des Wüstenplaneten überblickt. Denn wir sind gerade dabei, den Klimakorridor, in dem wir uns in den letzten zehn Jahrtausenden befunden haben, in dem komplexe menschliche Gesellschaften und Innovationen überhaupt möglich waren, zu verlassen.