Das neue Projekt „Mapping Medieval Conflicts“ an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) untersucht Konflikte im Mittelalter mit digitalen Methoden der Netzwerkanalyse
Sind es übergreifende Ideologien und Unterscheidungen (nach Klasse, Rasse, Nation oder Religion), die den Ausbruch und den Verlauf von Konflikten steuern und menschliche Gemeinschaften in Gegnerschaft zueinander setzen – die „Makro-Ebene“, von der die Dynamik des Konflikts „top-down“ bestimmt wird? Oder müssen bewaffnete Konflikte als die Summe und das Ergebnis individueller Entscheidungen und Gewalttaten verstanden werden, manchmal verübt zwischen Menschen, die lange Zeit eng nebeneinander lebten (etwa während der Bürgerkriege im zerfallenden Jugoslawien) – die „Mikro-Ebene“, von der aus „bottom-up“ die Konfliktdynamik hervorgeht (das Muster, nach der etwa auch Hollywood das Mittelalter erzählt, z. B. in Mel Gibson´s „Braveheart“)?
Für moderne wie für mittelalterliche Gesellschaften müssen beide Ebenen eng miteinander verflochten werden, um zu einer angemessenen Analyse von Konflikten zu gelangen. Doch auch für den Historiker werden komplexe Gemengelagen individueller und gemeinschaftlicher Konfliktaustragung oft unübersichtlich und schwer zu entwirren.
Instrumente, um solche Verflechtungen von der Ebene des Individuums bis zu jener ganzer staatlicher Gemeinschaften systematisch zu erfassen, zu visualisieren und zu analysieren bietet die soziale Netzwerkanalyse. Seitdem der Netzwerkbegriff insbesondere durch „social networks“ wie Facebook in aller Munde ist, hat er auch in den historischen Wissenschaften Hochkonjunktur. Der Netzwerkanalyse liegt die Annahme zugrunde, dass soziale Verflechtungen nicht nur relevant sind, sondern „dass sie in einer signifikanten Weise organisiert sind, dass z. B. dieses oder jenes Individuum aufgrund seiner Bindungen eine interessante Position einnimmt“ (Cl. Lemercier, 2012) oder das Beziehungen in Gruppen in bestimmten strukturellen Mustern auftreten. Um diese Muster zu erfassen, werden soziale Netzwerke in Form von Netzwerkgraphen erfasst – mit „Knoten“, d. h. den Individuen oder anderen Entitäten, die in Beziehung stehen, und „Kanten“, die als Linien die Beziehungen zwischen den Knoten darstellen. Sie dienen sowohl der Visualisierung von Netzwerken als auch als Grundlagen weiterer quantitativer Analyse der Strukturen der Verflechtungen. Dadurch können Unterschiede in der „Zentralität“ einzelner Knoten, etwa aufgrund der Anzahl ihrer Verbindungen oder ihrer günstigen Positionierung zwischen unverbundenen Gruppen von Knoten, ermittelt werden. Weitere Verfahren ermöglichen die Identifizierung von Clustern und Cliquen als Gruppen von Knoten, die enger untereinander verflochten sind als mit dem Rest des Netzwerks und z. B. unterschiedliche Parteiungen repräsentieren können. Und schließlich können Netzwerke in ihrer Gesamtheit im Hinblick auf die Dichte und „Belastbarkeit“ des Beziehungsgeflechts oder die (un)gleiche Verteilung zentraler Netzwerkpositionen untersucht werden.
Abb.: Einige Grundkonzepte der quantitativen Netzwerkanalyse (aus: Dave Gray, The Connected Company. O'Reilly & Associates 2012)
Daten für die Erstellung solcher Netzwerkgraphen sind aus mittelalterlichen Quellen natürlich sehr viel schwerer zu ermitteln als etwa für die Beziehungen zwischen Facebook-Usern. Die Speicher vergangener sozialer Verbindungen und Interaktionen sind zeitgenössische Chroniken und insbesondere hunderte, manchmal tausende Urkunden über Rechtsgeschäfte, Verwaltungsakte und auch Konflikte, die uns der Zufall der Überlieferung erhalten hat. Diese Texte (im Rahmen dieses Projekts auf Latein, Griechisch oder den jeweiligen Volkssprachen) müssen erst einmal gesichtet, entziffert, übersetzt und ausgewertet werden, ehe sich ihr Informationsgehalt für die weitere Untersuchung erschließt. Nicht zuletzt deshalb ist das Projekt „Mapping Medieval Conflicts“ am Institut für Mittelalterforschung der ÖAW eng an mehrere, international vernetzte Langzeitunternehmen für die Edition und Analyse mittelalterlicher Textbestände („Monumenta Germaniae Historica“, „Regesta Imperii“, „Prosopographisches Lexikon der Palaiologenzeit“) gekoppelt, die überhaupt die Voraussetzungen für ein derartiges Unterfangen garantieren.
Abb.: Ein Urkunde gewordenes soziales Netzwerk: die Bündnisurkunde des Mailberger Bundes von mehr als 200 Rittern, Herrn und Ständevertretern gegen Friedrich III., 1451/1452 (Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien)
Ein Beispiel: Bürgerkrieg in Byzanz. Zufälle, Netzwerke und Karate
Wie in vielen Teilen Europas und der alten Welt war auch für das Byzantinische Reich das 14. eine Zeit der Krise und des Konflikts. Äußere Feinde, eine mit Naturkatastrophen einhergehende Veränderung des Klimas und seit der Mitte des Jahrhunderts die Pest bedrohten die Existenz des Reiches, während sich das Kaiserhaus und die Elite in inneren Konflikten schwächten
Der erste dieser Bürgerkriege in den Jahren 1321 bis 1328 verdankte seinen Ausbruch ähnlich wie– zumindest laut Mel Gibson – die Revolte des Braveheart der Tat eines Mannes: Andronikos III. Palaiologos, Enkelsohn des regierenden Kaisers Andronikos II. und formell Mitkaiser des Reiches. Der 23jährige jüngere Andronikos hatte sich in eine schöne Adelige der Hauptstadt Konstantinopels verliebt, die ihre Gunst aber auch anderen jungen Aristokraten gewährte. Der eifersüchtige Kaiserenkel heuerte Mörder an, die des Nachts den Nebenbuhlern beim Haus der Geliebten einen Hinterhalt legen sollten. Doch der erste, der ihnen in die Hände fiel und sein Leben ließ, war der Bruder des Andronikos III., Manuel. Der erschütterte Großvater enterbte Andronikos III. und setzte einen anderen Nachfolger ein.
Doch Andronikos III. fand seine eigene Gefolgschaft insbesondere unter den jüngeren Vertretern der byzantinischen Aristokratie, die mit dem Regime des seit fast 40 Jahren mit eher geringem Erfolg regierenden älteren Andronikos höchst unzufrieden waren. Im Frühjahr 1321 erklärten der jüngere Andronikos und seine Anhänger Andronikos II. den Krieg und forderten die Wiedereinsetzung des Thronerben. Die Vertreter der Elite mussten sich nun entscheiden; die Polarisierung zwischen den Lagern erfasste die gesamte byzantinische Elite, wie ein Blick auf eine Visualisierung des Netzwerks der Gefolgschaftsbeziehungen dieser Gruppe (insgesamt 141 Individuen) für das Jahr 1321 deutlich zeigt.
Abb.: Das Gefolgschaftsnetzwerk der byzantinischen Elite (141 Personen) im Jahr 1321 (J. Preiser-Kapeller, IMAFO/ÖAW, 2014)
Wenn man die Verwandtschafts- und Freundschaftsbeziehungen zwischen diesen Personen erfasst, wird auch sichtbar, dass diese Entzweiung in vielen Fällen oft seit langem bestehende Netzwerke überlagerte.
Abb.: Netzwerke der Verwandtschaft (links) und der Freundschaft (rechts) zwischen den Mitgliedern der byzantinischen Elite 1321 (J. Preiser-Kapeller, IMAFO/ÖAW, 2014)
Der Physiker M. Newman entwickelte auch Algorithmen, die Sub-cluster, die intern strukturell stärker als mit dem Rest des Netzwerks verflochten sind, und somit potentielle Bruchstellen identifizieren. In einem Test wandte er sie auf Netzwerkdaten eines Karate-Clubs in den USA an, der für längere Zeit von Sozialwissenschaftlern beobachtet worden war und in dem die Polarisierung der Freundschaftsbeziehungen um zwei populäre Trainer schließlich zum Auseinanderbrechen des Vereins geführt hatte. Der Newman-Algorithmus ordnete die Knoten in einem Netzwerkgraphen für die Zeit unmittelbar vor dem Zerfall in zwei Gruppen, die mit Ausnahme eines Knotens identisch mit den zwei neuen Vereinen waren, die nach dem Auseinanderbrechen des Karate-Klubs entstanden waren.
Abb.: Identifizierung der Cluster und potentiellen Bruchstelle im Freundschaftsnetzwerk eines Karate-Clubs (aus: Newman, 2010)
Wenn wir diesen Algorithmus auf ein Netzwerkmodell aller Verwandtschafts-, Freundschafts- und Gefolgschaftsbeziehungen in der byzantinischen Elite für das Jahr 1321 anwenden, wird die tatsächliche Fragmentierung dieser Gruppe sichtbar. Neben zwei größeren Clustern von Knoten, die einem der beiden Kaiser zugewiesen werden, identifiziert das Verfahren kleinere Cluster, die strukturell nicht eindeutig einem der Lage angehören. Potentielle Trennungslinien und Fraktionsbildungen werden in einer systematischen Gesamtschau der relevanten Beziehungen somit bereits für einen Zeitpunkt vor dem tatsächlichen Ausbruch des Konflikts sichtbar.
Abb.: Identifizierung von Clustern im Netzwerk der byzantinischen Aristokratie mit Hilfe des Newman-Algorithmus: die Cluster von Andronikos II. (hellblau), Andronikos III. (dunkelblau) und der nicht eindeutig einem Lager zuzurechnenden Familien der Palaiologen (dunkelgrün), Kaballarios (gelb), Tornikes (hellgrün) und Metochites (rot) (J. Preiser-Kapeller, IMAFO/ÖAW, 2014)
Die engen sozialen und verwandtschaftlichen Verbindungen zwischen Vertretern der beiden Parteien trugen aber auch immer wieder zu einer Deeskalation des Konflikts bei; mehrfach wurden diese Kanäle genutzt, um zeitweilige Einigungen zwischen Andronikos II. und seinem Enkel zu erzielen, die eine neuerliche Anerkennung des jüngeren Andronikos als (Mit)kaiser und eine Teilung der Herrschaft zwischen den beiden vorsahen. Gleichzeitig aber konnte das grundlegende Zerwürfnis zwischen den Generationen der Elite erst beseitigt werden, als 1328 der alte Kaiser zur Abdankung gezwungen und die Vertreter des „alten“ Regimes von der Machtpositionen entfernt wurden (und oft so wie Theodoros Metochites ins Kloster gingen). Analysiert man die Fraktion des Andronikos III. quantitativ, so war sie zwar an Zahl kleiner, jedoch in der Struktur der Verflechtungen zwischen ihren Mitgliedern dichter „gestrickt“ und somit auch in krisenhaften Perioden der Auseinandersetzung belastbarer. Die Anhängerschaft des alten Kaisers war hingegen zahlreicher, jedoch in ihrer Gesamtheit im Hinblick auf ihre Netzwerkmuster loser geknüpft; hier kam es bald zu Übertritten auf die Seite des jüngeren Kaisers.
Die Kartierung und Analyse dieser Netzwerke liefert somit wertvolle neue Einblicke in die strukturellen Hintergründe des Verlaufs und Ausgangs dieses Konflikts. In der unmittelbaren sozialen Umwelt jedes Akteurs wie in der Führungsgruppe des Staates in ihrer Gesamtheit wirkten verschiedene kohäsive und zentrifugale Kräfte der Verflechtung gegen- und miteinander, die sowohl individuelle Entscheidungen als auch die Identität und den Erfolg von Gruppen maßgeblich beeinflussten.
Mapping Medieval Conflicts – die Ziele
Die verschiedenen Kategorien von Verflechtungen, ihre Bedeutung und ihr Zusammenspiel für den Ausbruch und die Dynamik von Konflikten für einzelne Akteure, Gruppen und größerer Gemeinschaften in ihrer zeitlichen und räumlichen Dimension zu erfassen, zu kartieren und zu analysieren ist das Ziel von „Mapping Medieval Conflicts“. Damit eröffnet sich auch eine vergleichende Perspektive auf ähnliche Phänomene in anderen Epochen bis hin zur Gegenwart.
Auf technischer Ebene sind die Ziele des Projekts:
• Die Weiterentwicklung und Kombination einer Reihe von Software-Tools, die die relationale Erfassung mittelalterlicher Quellen und die Visualisierung und quantitative Analyse von sozialen und räumlichen Netzwerken erleichtern. Als softwaremäßige Datenbankgrundlage dient das in Wien von Stefan Eichert, der auch am Projekt mitarbeiten wird, für die Erfassung archäologischer Stätten und Funde sowie historisch-geographischer Daten entwickelte OpenAtlas-System (https://www.openatlas.eu/conc/).
• Die Entwicklung von Fallstudien, die eine "best practice" der Anwendung und Bewertung von Netzwerkanalyse-Tools für die mittelalterliche Geschichtsforschung etablieren (Distribution als „open data“)
• Die Schaffung einer Online-Plattform für die Präsentation von Daten, Methoden und Ergebnisse auch für die breite Öffentlichkeit (open access)
Angestrebt wird die Erarbeitung eines leicht adaptierbaren work flows von der Dateneingabe auf der Basis mittelalterlicher Quellen zur Erstellung, Visualisierung und Analyse von sozialen und räumlichen Netzwerkmodellen und ihrer Web-basierten Publikation und Präsentation.
Abb.: Der „Workflow“ für das Projekt „Mapping Medieval Conflicts“
Um dies im Detail zu demonstrieren, konzentriert sich „Mapping Medieval Conflicts“ auf die Analyse von politischen Netzwerken und Konflikten zwischen Machteliten im mittelalterlichen Europa mit fünf Fallstudien:
• Die gegnerischen Parteien im Kampf um den deutschen Thron, 1198-1208 (Andrea Rzihacek, Renate Spreitzer)
• Koalitionen im Krieg von Kaiser Sigismund gegen Herzog Friedrich IV. von Tirol (Günter Katzler)
• Kaiser Friedrich III. und die Liga der Mailberger Koalition, 1451/52 (Kornelia Holzner-Tobisch)
• Fraktionen und Allianzen im Kampf von Maximilian I. um Burgund (Sonja Dünnebeil)
• Politische Fraktionen im 14. Jahrhundert in Byzanz (Johannes Preiser-Kapeller)
Abb.: Die Regionen der fünf Fallstudien des Projekts „Mapping Medieval Conflict“
„Mapping Medieval Conflicts“ wird die Erklärungskraft von Netzwerkkonzepten für Phänomene des politischen Konflikts in mittelalterlichen Gesellschaften bewerten. Dabei verwendet das Projekt die netzwerkartige Strukturierung durch moderne Software nicht nur als Instrument für die Organisation der Daten, sondern als heuristisches Werkzeug für die Rekonstruktion und Analyse des relationalen Charakters sozialer Phänomene der Vergangenheit. Somit wird auch der zusätzliche Nutzen von digitalen Werkzeugen über die Datenerhebung hinaus für die Erarbeitung neuer Forschungsfragen demonstriert.
Gleichzeitig etabliert die vergleichende Analyse dieser Konflikte in ihrer Dynamik von der Mikro- bis zur Makroebene das Mittelalter als Referenzpunkt für die Untersuchung ähnlicher Phänomene in Geschichte und Gegenwart abseits der eingangs erwähnten Klischees einer dunklen und blutrünstigen Epoche.
Autor: Johannes Preiser-Kapeller, ÖAW – RGZM
Literatur- und Internethinweise:
Robert Gramsch, Das Reich als Netzwerk der Fürsten. Politische Strukturen unter dem Doppelkönigtum Friedrichs II. und Heinrichs (VII.) 1225-1235. Ostfildern 2013.
J. Habermann, Verbündete Vasallen: Die Netzwerke von Grafen und Herren am Nordwestharz im Spannungsgefüge zwischen rivalisierenden Fürstgewalten (ca. 1250-1400). Norderstedt 2011.
E. Jullien, Netzwerkanalyse in der Mediävistik. Probleme und Perspektiven im Umgang mit mittelalterlichen Quellen. Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 100/2 (2013), 135–153.
Cl. Lemercier, Formale Methoden der Netzwerkanalyse in den Geschichtswissenschaften: Warum und Wie?, in: Müller, Albert; Neurath, Wolfgang (Hrsg.) (2012), Historische Netzwerkanalysen (Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 23/1). Innsbruck – Wien - Bozen, 16–41.
M. E. J. Newman, Networks. An Introduction. Oxford 2010.
J. Preiser-Kapeller, Complex historical dynamics of crisis: the case of Byzantium, in: S. Jalkotzy-Deger - A. Suppan (eds.), Krise und Transformation. Wien 2012, 69-127.
W. Reinhard, Freunde und Kreaturen. "Verflechtung" als Konzept zur Erforschung historischer Führungsgruppen. Römische Oligarchie um 1600. München 1979.
Das Projekt: https://oeaw.academia.edu/MappingMedievalConflict
Das go!digital-Programm der ÖAW: https://www.oeaw.ac.at/oesterreichische-akademie-der-wissenschaften/news/article/die-neuen-dimensionen-des-forschens/
Das Institut für Mittelalterforschung der ÖAW: https://www.oeaw.ac.at/imafo/
Der Interdisziplinäre Arbeitskreis „Digital Middle Ages“ am IMAFO: https://www.imafonet.at/dma/
Das OpenATLAS-Programm von Stefan Eichert: https://www.openatlas.eu/conc/
Weitere Beispiele der Visualisierung mittelalterlicher Netzwerke: https://oeaw.academia.edu/TopographiesofEntanglements
Plattform für historische Netzwerkanalyse: https://historicalnetworkresearch.org/