Piketty in Byzanz? Ungleichverteilungen von Vermögen und Einkommen im Mittelalter

In seinem Bestseller „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ (dt. München 2014) versucht der französische Ökonom Thomas Piketty die Dynamik und die Gefahren extremer Ungleichverteilung von Vermögen in modernen Demokratien zu analysieren; dabei greift er bis ins 18. Jahrhundert zurück. In verschiedenen Fällen können wir allerdings ähnliche Muster der Ungleichverteilung bereits in mittelalterlichen Gesellschaften beobachten – und weiterführende Schlüsse über ihre Ursprünge ziehen.

Wie misst man Ungleichheit?

Unter den statistischen Möglichkeiten, die (Un)gleichverteilung von Einkommen oder anderen Größen zu messen, hat insbesondere der nach dem italienischen Soziologen Corrado Gini (1884-1965) benannte Gini-Koeffizient einige Bekanntheit erlangt. Dieser Koeffizient kann einen Wert zwischen 0 und 1 (oder 0 und 100) annehmen, wobei 0 eine völlige Gleichverteilung von Einkommen bedeutet (alle Mitglieder einer Population haben ein gleich hohes Einkommen) und 1 eine völlige Ungleichverteilung (das gesamte Einkommen einer Population fließt in die Hände eines einzelnen). Zwischen diesen Extremen liegt der Gini-Koeffizient tatsächlicher Gesellschaften.

Abb.: Schema zur Berechnung des Gini-Koeffizienten (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Gini-Koeffizient)

 

Abb.: Die Gini-Koeffizienten (zwischen 0 und 100) der Staaten der Erde heute (nach Daten der Weltbank; wikimedia.commons)

 

Eine andere Möglichkeit ist die Darstellung der relativen Häufigkeit verschiedener Einkommens- oder Vermögenswerte in einem Histogramm; in der Folge können eher „gleiche“ oder „ungleiche“ Verteilungsmuster unterschieden werden. Die wohl bekannteste derartige Verteilung ist die Normalverteilung (nach dem Mathematiker Carl Friedrich Gauß [1777-1855] auch als „Gauß-Verteilung“ bezeichnet). Dabei sind die meisten Größen rechts und links von einem Mittelwert angesiedelt, während es wenige „Ausreißer“ nach oben oder unten gibt; es handelt sich also um ein sehr gleichmäßiges Verteilungsmuster, das aber bei Einkommens- oder Vermögensdaten kaum beobachtet werden kann.

Abb.: Der Mathematiker Carl Friedrich Gauß (1777-1855) und die von ihm definierte „Normalverteilung“ auf einem alten Zehn-Markschein.

 

Weitaus üblicher (und ungleicher) ist ein Verteilungsmuster von Einkommen, das dem einer Lognormal-Verteilung entspricht; dort steht eine relativ geringe Zahl an hohen Einkommen einer relativ hohen Frequenz mittlerer und geringerer Einkommensgrößen gegenüber, während die Häufigkeit von ganz kleinen Einkommen wieder abnimmt (also quasi eine nach rechts oder links verschobene Normalverteilung).

Abb.: Log-Normalverteilung und Normalverteilung im Vergleich

 

Auch der italienische Soziologe Vilfredo Federico Pareto (1848-1923) setzte statistische Verfahren zur Ermittlung der Ungleichverteilung von Einkommen ein; in der nach ihm benannten Pareto-Verteilung nimmt die Zahl der Einkommensbezieher von den kleinsten Einkommen zu den größten hin rasant ab. Eine solches Verteilungsmuster genügt auch einem sogenannten Potenzgesetz, das folgende Form annimmt: y = a xb , wobei der Exponent b einen Indikator für die Stärke der Ungleichverteilung darstellt (wobei Werte in verschiedenen Studien zwischen 0,5 und 2,5 schwanken). Stellt man eine solche Verteilung in einem doppellogarithmischen Graphen dar, so nimmt dieser die Form einer Geraden (Diagonale) an (siehe auch unten).

Abb.: Pareto – und Normalverteilung im Vergleich

 

Neben Häufigkeitsverteilungen können auch „Rang-Größen-Verteilungen“ (rank size distribution) von Einkommen oder Vermögenswerten erstellt werden, wobei die einzelnen Einkommensgrößen nach ihrem Rang vom größten bis zum kleinsten Wert angeordnet werden. Auch in solchen Verteilungen lassen sich typische Muster wie logarithmische oder Potenzverteilungen beobachten; letztere zeichnet etwa auch häufig die Rang-Größen-Verteilung der Bevölkerungszahlen von Städten in einem bestimmten Gebiet aus (sog. „Zipf´sches Gesetz“).

Abb.: Eine „Rang-Größen-Verteilung“ der Bevölkerungszahl von Städten in den Niederlanden auf einer doppel-logarithmischen Skala; sie folgt einem Potenzgesetz („Zipf´sches Gesetz“)

 

Ungleichheit im Mittelalter: Daten und Schätzungen

Zur Anwendung solcher statistischer Verfahren werden möglichst genaue Daten zur Verteilung von Einkommen oder Vermögenswerten innerhalb einer Population benötigt. Für das europäische Mittelalter sind solche Daten für einzelne Fälle in der Regel erst ab dem Spätmittelalter zu ermitteln. Jedoch gibt es auch Versuche, aufgrund von Schätzungen des durchschnittlichen Einkommens verschiedener Gruppen und deren relativem Anteil an der Bevölkerung z. B. Gini-Koeffizienten für antike oder frühmittelalterliche Gesellschaften zu ermitteln (so etwa Branko Milanovic, Ökonom bei der Weltbank, im Jahr 2006 für Byzanz um das Jahr 1000. und das kaiserzeitliche Rom). Derartige Ansätze sind aber mit großen Unsicherheiten behaftet und in ihrer Aussagekraft beschränkt.

Abb: Schätzungen zum durchschnittlichen Einkommen (in $ PPP 1990) und zum Gini-Koeffizienten für das Byzantinische Reich um das Jahr 1000 in Vergleich mit Madagaskar und der Elfenbeinküste (aus: Milanovic 2006)

 

Tatsächlich einigermaßen verlässliche Daten haben wir vor allem aufgrund von Steuerlisten und Einkommensschätzungen für Westeuropa (und in geringerem Ausmaß auch für Byzanz) aus dem 13. bis 16. Jahrhundert. Die Stadt Florenz etwa erfasste im berühmten Catasto des Jahres 1427 Besitz und Einkommen ihrer Bürger; dieses wertvolle Datenmaterial wurde von David Herlihy und Christiane Klapisch-Zuber bereits 1979 zu einer der ersten historisch-statistischen Publikationen, die auf die Hilfe eines Computers zurückgriff, analysiert. Genauere Informationen erhalten wir z. B. zum Kapitalstock von 522 Familienunternehmungen, die in der Stadt aktiv waren; an der Spitze standen damals natürlich die Medici mit einer Summe von 94.773 Gulden, während die kleinste verzeichnete Summe nur 10 Gulden ausmachte. Die gesamte Häufigkeitsverteilung für die 522 Familien nähert sich stark einer Pareto-Verteilung an; die reichsten 10 % der Familien verfügten über 62 % des Kapitals, die ärmsten 25 % zusammen gerade einmal über 0,4 %. Diese enorme Ungleichverteilung innerhalb der Florentiner Kaufmannsfamilien schlägt sich auch in einem Gini-Koeffizienten von 78,2 nieder, weit über den Werten, die wir in modernen Staaten selbst in Afrika oder Lateinamerika finden.

Abb.: Histogramm der Häufigkeit von Kapitalsummen von 522 Florentiner Kaufmannsfamilien im Jahr 1427 (Daten: Padgett - McLean, 2011; Diagramm: Preiser-Kapeller, 2015)

 

Doch auch innerhalb der reichsten Familien war das ökonomische Potential ungleich verteilt; ordnen wir die 100 wohlhabendsten Familien nach ihrem Kapital an, dann ergibt sich in der doppel-logarithmischen Darstellung die charakteristische Diagonale der Potenzverteilung, mit einem Exponenten von 0,762 (immerhin am unteren Rand der bisher ermittelten Bandbreite der Ungleichheit).

Abb: Rang-Größe-Verteilung der Kapitalsummen der 100 reichsten Florentiner Kaufmannsfamilien im Jahr 1427 (Daten: Padgett - McLean, 2011; Diagramm: Preiser-Kapeller, 2015)

 

Eine ähnlich ungleiche Potenzverteilung konnten Geza Hegyi, Zoltan Néda und Maria Augusta Santos in ihrer Studie zur Verteilung des Reichtums (ausgedrückt in der Anzahl der jeweils dienstbaren leibeigenen Bauernfamilien) unter den 1283 führenden Familien der ungarischen Aristokratie und den 116 wichtigsten religiösen Institutionen des Landes im Jahr 1550 ermitteln, wobei der Exponent der Potenzverteilung mit 0,92 etwas höher ausfiel als bei der Spitze der Florentiner Kaufleute.

Abb: Rang-Größen-Verteilung des Reichtums unter den 1283 führenden Familien der ungarischen Aristokratie und den 116 wichtigsten religiösen Institutionen des Landes im Jahr 1550, ausgedrückt in Anzahl der leibeigenen Familien (aus: Hegyi, Néda und Santos 2005).

 

Aufgrund dieser Beispiele könnte man davon ausgehen, dass sich Reichtum vor allem in der jeweiligen (adeligen oder ökonomischen) Elite ungleich verteilte. Allerdings lässt sich aufgrund von Abgabenlisten auch für Dörfer auf dem Land, in denen damals wohl bis zu 90 % der Bevölkerung lebten und arbeiteten, zeigen, dass Besitz und Einkünfte zwischen den bäuerlichen Haushalten ungleich verteilt waren. So verfügen wir etwa für das Jahr 1316 über eine Liste der Abgaben (praktikon) von 223 Haushalten aus dem Dorf Radolibos im byzantinischen Makedonien, das damals dem großen Kloster Iviron auf dem Heiligen Berg Athos unterstand (AIv III, nr. 74). Die Häufigkeitsverteilung der Abgabengruppen entspricht am ehesten einer (moderat ungleichen) Lognormal-Verteilung, wie sie vielfach für Einkommensverteilungen anzutreffen ist. Die wohlhabendsten 10 % der Haushalte leisteten 22,5 % der Abgaben, die ärmsten 25 % der Haushalte hingegen nur 7 %; gleichzeitig existierte ein relativ breiter „Mittelstand“ (mit Abgaben von ein bis zwei Hyperpyra, also Goldmünzen), der 50 % der Haushalte ausmachte und 60 % der Abgaben entrichtete. Auch der Gini-Koeffizient fällt mit 42,7 viel geringer aus als bei den Elite-Familien und befindet sich im Bereich moderner Gesellschaften wie etwa den USA.

Abb.: Die Häufigkeit von Abgabengruppen unter den Haushalten im Dorf Radolibos im byzantinischen Makedonien, 1316 (Preiser-Kapeller, 2015)

 

Abb.: Die Eintragung der Heiligen Familie in die Steuerliste, byzantinisches Mosaik aus der Chora-Kirche in Istanbul (14. Jh.)

Grenzen und Dynamik der Ungleichheit: der Preis der Komplexität?

Diese Beispiele stellen natürlich nur eine kleine Auswahl aus drei mittelalterliche Staaten dar; dennoch liegt eine gewisse Logik darin, dass an der Spitze dieser Gesellschaften die Ungleichverteilung von Vermögen und Einkünften viel stärker ausgeprägt war. Wie etwa auch Branko Milanovic in seiner Studie deutlich macht, war der Spielraum für Ungleichheit klein, wenn der gesamte zu verteilende Wohlstand einer Gruppe überhaupt gering war. Zumindest über die Mittel zur unmittelbaren Selbstversorgung musste auch der ärmste bäuerliche Haushalt verfügen; dennoch konnte in Radolibos der reichste Haushalt noch das 30fache der Abgaben des ärmsten Haushalts leisten. In Florenz verzeichnete der Catasto allerdings für die reichste Familie (die Medici) die mehr als 9000fache Summe des Eintrags für die ärmste Familie! In der wohlhabenden Handelsrepublik gab es schlichtweg sehr viel mehr Wohlstand zu verteilen als im Dorf Radolibos; damit stieg aber auch der Spielraum für die Ungleichverteilung zwischen Selbstversorgung und enormem Reichtum.

Ist die größere Ungleichverteilung von Einkommen und Besitz also der Preis für den Anstieg des allgemeinen Wohlstands und der wirtschaftlichen Komplexität? Ein paralleles Phänomen aus der Netzwerktheorie spricht dafür: in vielen sozialen Netzwerken, aber auch solchen der Infrastruktur (Internet, Flugverkehr) lässt sich eine große Ungleichverteilung der Anzahl der Verbindungen („Kanten“) unter den „Knoten“ eines Netzwerks (also etwa der Anzahl der Kontakte in einem Geflecht von Geschäftsleuten oder der Links zwischen Websites) beobachten. Diese Ungleichverteilungen folgen zum Teil so wie die Pareto-Verteilungen von Einkommen sogenannten „Potenzgesetzen“ (power laws).

Abb: Eine „Normalverteilung“ der Anzahl von Kanten unter den Knoten eines Netzwerks (links) und eine ungleiche „Potenzverteilung“ („power law“) der Anzahl von Kanten (rechts)

 

Die Physiker Reka Albert und Albert-Laszlo Barabási versuchten verschiedene Mechanismen zu modellieren, die die Entstehung solcher Ungleichverteilungen in Netzwerken erklären könnten. Am meisten Beachtung fand dabei das Modell des „preferential attachment“: wenn ein Netzwerk „wächst“ und ein neuer Knoten entsteht, so entspricht die Wahrscheinlichkeit, mit welchem der bereits bestehenden Knoten er sich verbindet, der Anzahl der bereits existierenden Kanten eines Knotens („Matthäus-Prinzip“; „rich get richer“-Effekt). Auf diese Weise können sich auch geringe anfängliche Variationen in der Anzahl der Kanten von Knoten in einem Netzwerk bei steigender Anzahl der Knoten und Verbindungen (= wachsender Komplexität des Netzwerks) zu großen Unterschieden aufsummieren, die einzelne Knoten als „Hubs“ aus der Masse „herausstechen“ lassen.

Abb: Das Modell des „preferential attachment“ in einem wachsenden Netzwerk (aus: A. Kremling, Kompendium Systembiologie. Mathematische Modellierung und Modellanalyse. Wiesbaden 2012).

 

Derartige Netzwerke zeichnen sich durch eine Kombination von relativ hoher lokaler Dichte des Beziehungsgeflechts (und somit Belastbarkeit) und relativ großer Effizienz bei der Distribution von Ressourcen oder Informationen aus. Die Ungleichverteilung zentraler Netzwerkpositionen lässt sich aber auch mit Unterschieden im Zugang zum Fluss von Kapital und ökonomischen Vorteilen verknüpfen – und somit mit ähnlich ungleichen Verteilungsmustern von Reichtum und Einkommen.

Die wachsende Komplexität und der steigende Wohlstand von Gemeinschaften gehen also mit einem ebenso anwachsenden Potential für die Ungleichverteilung von Kapital einher, sind vielleicht sogar der (notwendige?) Preis für die Entwicklung komplexerer Gesellschaft; die Frage von Thomas Picketty und anderen Ökonomen ist allerdings, welcher Grad an Ungleichheit dem Zusammenhalt einer Gesellschaft noch zumutbar ist. Vielleicht können auch dafür die Gesellschaften des Mittelalters erhellende Beispiele liefern.

Abb.: Der „rich get richer“-Effekt (von: https://therealsingapore.com/content/how-rich-get-richer-and-poor-get-poorer)

 

Autor: Johannes Preiser-Kapeller, ÖAW - RGZM

Literatur:

R. Albert / A.-L. Barabási, Statistical Mechanics of Complex Networks. Reviews of Modern Physics 74, 2002, 48-97.

Ge. Hegyi / Z. Néda / M. A. Santos, Wealth distribution and Pareto’s law in the Hungarian medieval society. European Physical Journal B (2005) online: https://arxiv.org/abs/physics/0509045.

A. Laiou-Thomadakis, Peasant Society in the Late Byzantine Empire. A Social and Demographic Study. Princeton, New Jersey 1977

Branko Milanovic,  An Estimate of average Income and Inequality in Byzantium around the year 1000. Review of Income and Wealth Series 52, Number 3, September 2006, online: https://www.roiw.org/2006/2006-22.pdf.

J. M. Najemy, A History of Florence 1200–1575. Malden – Oxford 2006.

M. E. J. Newman, Networks. An Introduction (Oxford 2010).

J. F. Padgett / Ch. K. Ansell, Robust Action and the Rise of the Medici, 1400–1434, in: The American Journal of Sociology 98/6, 1993, 1259-1319.

J. F. Padgett / P. D. McLean, Economic Credit in Renaissance Florence, in: The Journal of Modern History 83/1 (March 2011), 1-47.

Th. Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert. München 2014.

J. Preiser-Kapeller, Complex historical dynamics of crisis: the case of Byzantium, in: S. Jalkotzy-Deger - A. Suppan (Hrsg.), Krise und Transformation. Wien 2012, 69-127 (online: https://oeaw.academia.edu/JohannesPreiserKapeller/Papers)

P. Temin, The Roman Market Economy (Princeton – Oxford 2013).