Kein Kaiserwetter für Karl den Großen

Wie Schlechtwetter, Hungersnöte und Seuchen Westeuropa unter Kaiser Karl und seinen Nachfolgern im 9. Jahrhundert zu schaffen machten

Ein Auszug aus: Johannes Preiser-Kapeller, Der Lange Sommer und die Kleine Eiszeit. Klima, Pandemien und der Wandel der Alten Welt von 500 bis 1500 n. Chr. Wien: Mandelbaum Verlag, März 2021. 440 Seiten, ISBN: 978385476-889-0

Der Frankenkönig Karl (reg. 768–814), der ursprünglich gemäß fränkischer Erbgepflogenheiten die Herrschaft mit seinem bereits 771 verstorbenen Bruder Karlmann geteilt hatte, begann eine gewaltsame Expansionspolitik an allen Grenzen des Reiches. Insbesondere gegen die nach wie vor ‚heidnischen‛ Sachsen im Gebiet zwischen Rhein und Elbe wurden zwischen 772 und 804 mehrere blutige Feldzüge mit nicht weniger Grausamkeit geführt, als sie später die Wikinger an den Tag legten (782 etwa soll Karl die Hinrichtung von 4500 gefangenen Sachsen befohlen haben). Offizielles Ziel dieser Kriege war die Christianisierung dieser Gebiete, doch nutzten sie Karl und sein Gefolge an mächtigen Adeligen zur Gewinnung von neuen Territorien und von Beute, unter anderem in Form von Sklaven (Nichtchristen durften weiterhin versklavt werden), die etwa über den Markplatz Verdun, wo auch Kastrationsspezialisten besonders nachgefragte Eunuchen ‚produzierten‛, in das arabisch beherrschte Spanien und darüber hinaus in die ganze islamischen Welt verkauft wurden. Zwischen 788 und 796 unterwarf Karl in ähnlicher Weise die Reste des Awarenreichs in Pannonien. Die Eroberung des Langobardenreichs in Italien 773/774 war wiederum die Grundlage für die Krönung Karls zum Kaiser der Römer durch den Papst am 25. Dezember des Jahres 800, 324 Jahre nach der Absetzung des letzten weströmischen Kaisers.

Die Expansion des Frankenreichs unter Karl dem Großen (reg. 768-814)

Schon davor versuchte Karl, dem Vorbild der spätrömischen Kaiser nachzueifern und sein Reich auf einer christlichen Grundlage neu zu ordnen. Anlass dafür boten auch durch Witterungsextreme ausgelöste Missernten und Hungersnöte, die mit der beginnenden Übergangsphase zwischen der spätantiken Kaltzeit und der Mittelalterlichen Klima-Anomalie ab dem späten 8. Jahrhundert und im 9. Jahrhundert wieder mit höherer Frequenz auftraten, so z. B. zwischen 792 und 794. Reinhold Kaiser bemerkt dazu:

„Auf die erste große Hungersnot von 792/793 hatte Karl der Große reagiert, indem er [auf der Synode von Frankfurt 794] Höchstpreise für Brot und Getreide festlegte [wobei Weizen und das daraus hergestellte Brot am teuersten waren, gefolgt von Roggen, Gerste und Hafer], neue Maße, Gewichten und Münzen einführte sowie den Bischofskirchen und Klöstern Gebetsleistungen und dazu wie auch den weltlichen Großen (Grafen, Vasallen) je nach Besitz gestaffelte Abgaben (Almosen) für die Armen und deren Nahrungsunterhalt auferlegte. Diese allgemeinen wirtschaftspolitischen Maßnahmen gehören zu den ganz wenigen, die aus der Zeit des frühen Mittelalters bekannt sind. Mit seinem Versuch der Preisfestsetzung scheiterte Karl, wie zur ihrer Zeit Diocletian und Konstantin mit ihrem Höchstpreisedikt gescheitert waren.“

Die ‚imperiale Ökologie‛ des Reichs Karls unterschied sich aber deutlich von jener des Imperium Romanum; es gab kein fixes Zentrum (Rom diente als Sitz des Papstes, aber nicht des Kaisers), dessen urbaner Metabolismus für die Stabilität des Regimes entscheidend gewesen wäre. Im Gegensatz zog der Herrscher durch das Land, wo ihm einzelne ‚Pfalzen‛ (wie Aachen) als Stützpunkte dienten. Dieser ständige Residenzwechsel erleichterte nicht nur die Versorgung des Kaisers und seines Gefolges, obgleich diese dennoch eine große Last für das jeweilige Umland darstellen konnte; mangels eines mit der spätrömischen Bürokratie vergleichbaren Apparats wurde Herrschaft in den einzelnen Reichsteilen vor allem durch die zeitweilige Präsenz des Monarchen in der Begegnung mit den jeweils regional Mächtigen ausgeübt und sichtbar gemacht. Dies änderte sich auch in den Nachfolgereichen des Karolinger-Imperiums nicht.

Rekonstruktion von Palast und Kirche in Aachen, der Lieblingspfalz Karls des Großen

Der französische Mittelalterforscher Jean-Pierre Devroey widmete der Umwelt- und Klimageschichte der Herrschaft Karls des Großen 2019 eine umfassende Studie und beleuchtete die Motivation und Erfolge und Misserfolge des Kaisers im Angesicht von Witterungsextremen und Not. Zu den Misserfolgen zählte die Anlage eines Kanals zwischen den Flüssen Altmühl und Rezat (in Mittelfranken), der die Flusssysteme der Donau und des Rheins miteinander verbinden und somit das neue größere Reich stärker vernetzen sollte. Jüngst wurde auch die Vermutung geäußert, dass ein erhofftes Ergebnis die Erleichterung des Transports von Nahrungsmitteln in an Mangel leidende Regionen war; andere Quellen legen einen Zusammenhang mit den Vorbereitungen für einen Feldzug gegen die Awaren an der mittleren Donau nahe. In den dem fränkischen Gelehrten Einhard (ca. 770–840) zugeschriebenen Annalen heißt es jedenfalls zum Jahr 793:

„Der König wurde von selbsternannten Experten überzeugt, dass man am bequemsten von der Donau in den Rhein fahren könne, wenn zwischen den Flüssen Regnitz und Altmühl ein schiffbarer Kanal gebaut würde, da einer dieser Flüsse in die Donau und der andere in den Main mündet. Also ging er sofort mit seiner ganzen Gefolgschaft zu dem Ort, sammelte eine große Anzahl der Menschen, und verwandte den ganzen Herbst für dieses Projekt. Zwischen diesen beiden Flüssen wurde ein Graben gegraben, der zweitausend Schritte lang und dreihundert Fuß breit war. Aber es war vergebens; denn wegen des anhaltenden Regens und weil der sumpfige Boden zu viel Wasser enthielt, hielt die geleistete Arbeit nicht stand.“

Geoarchäologische Untersuchungen haben mittlerweile diese Angaben und auch die Datierung der Quellen bestätigt; der Kanal wurde, wohl nicht nur vor dem Hintergrund der lokalen Witterung, sondern der allgemeinen Notlage im Reich um diese Zeit, nie vollendet.

Spätere Darstellung der Bauarbeiten am „Karlsgraben“, der die Wasserscheide zwischen Rhein und Donau überwinden sollte, aber wegen Schlechtwetters und Hungersnot im Frankenreich nie vollendet wurde

Dennoch intensivierte sich die Verflechtung zwischen den verschiedenen Regionen des Reiches Karls, auch aufgrund der ständigen Mobilität seiner Armeen, seines Gefolges und anderer Vertreter von Adel und Kirche, deren Besitzungen über mehrere Landstriche verstreut waren. Dadurch erhöhte sich jedoch auch die Gefahr einer Verbreitung von Krankheitserregern. In den Jahren zwischen 805 und 810 wird, meist in Zusammenhang mit Schlechtwetter, Missernten und Hunger, von Epidemien unter Menschen, aber vor allem auch unter Pferden und Rindern berichtet. Diese Tierseuchen mögen sowohl durch die Feldzüge der Kavallerie Karls als auch den damals schon bestehenden Handel mit Vieh über weitere Distanzen verbreitet worden sein, wie insbesondere der Umwelthistoriker Timothy Newfield untersuchte. Eine besonders schlimme Viehsuche verbreitete sich 809/810 vom Osten des Reiches (den Quellen nach aus „Noricum“, also dem heutigen Österreich) her, vielleicht ursprünglich aus dem zerfallenden Awarenreich im Karpatenbecken kommend, „in allen Provinzen, die dem Kaiser unterstanden“.

Sogenannte Reiterstatuette Karls des Großen aus dem 9. Jahrhundert; der Herrscher und sein Gefolge waren ständig „auf Achse“, doch trug diese Mobilität von Mensch und Tier auch zur Verbreitung von Seuchen bei

Ob auch der Tod des Karl einige Jahr zuvor von Kalif Hārūn ar-Raschīd aus Bagdad übermittelten Elefanten namens Abul Abaz damit in Zusammenhang steht, ist unklar (dem exotischen Tier mag insgesamt die Witterung nördlich der Alpen nicht bekommen haben). Um von Gott die Beendigung der Seuche, die durch den Tod der Zugtiere (vor allem Ochsen) auch den Ackerbau schädigte, zu erflehen, ordnete Karl der Große ein reichsweites dreitägiges Fasten an. Angesichts der Not neigten die Menschen jedoch auch zu Verschwörungsspekulationen und schrieben die Schuld dem Feind von außen zu, den sie in Gestalt ‚verdächtiger‛ Personen zur Strecke bringen wollten, wie der gelehrte Erzbischof Agobard von Lyon (769–840) mit einiger Entrüstung und dem Versuch, vernünftige Gegenargumente vorzubringen, beschreibt:

„Vor ein paar Jahren verbreitete sich eine gewisse dumme Geschichte. Da es zu dieser Zeit eine Sterblichkeit unter den Rindern gab, sagten die Leute, dass [der mit den Franken im Krieg stehende] Herzog Grimoald [IV.] von Benevent [in Süditalien] Menschen mit einem Staub geschickt hatte, den sie auf den Feldern und Bergen, Wiesen und Flüssen verteilen sollten, und dass es wegen des Staubes war, den sie verbreiteten, dass das Vieh starb. Er tat dies [sagten sie], weil er ein Feind unseres christlichsten Kaisers Karl war. Aus diesem Grund haben wir gehört und gesehen, dass viele Menschen gefangen genommen und einige getötet wurden. Die meisten von ihnen wurden mit angebrachten Plaketten in den Fluss geworfen und ertranken. Und was wirklich bemerkenswert ist, die Gefangenen gaben [teilweise unter der Folter] Zeugnis gegen sich selbst und gaben zu, dass sie solchen Staub hatten und ihn verbreitet hatten. (…) Diese Geschichte wurde so weit verbreitet und geglaubt, dass es nur sehr wenige gab, denen sie absurd erschien. Sie überlegten nicht vernünftig, wie solcher Staub hergestellt werden könnte, wie er nur Rinder und keine anderen Tiere töten könnte, wie er von Menschen über ein so großes Gebiet getragen und verbreitet werden könnte. Sie überlegten auch nicht, ob es genug (…) Männer und Frauen aus Benevent gab, um in mit Staub beladenen Karren aus ihrer Region herum zu fahren. Das ist die große Dummheit, die die elende Welt unterdrückt (…)“

Agobard wandte sich auch gegen die während der vermehrten Zahl an Naturkatastrophen im 9. Jahrhundert aufkommende Ansicht, Hexen und Zauberer könnten durch dunkle Magie Unwetter und andere Witterungsereignisse herbeiführen; zu voller ‚Blüte‛ sollte dieser Aberglaube mit fatalen Folgen dann auf dem Höhepunkt der Kleinen Eiszeit ab dem 15. Jahrhundert gelangen.

Durchschnittliche Sommertemperaturen in Europa auf der Grundlage von Baumringen, 700-900 (Rekonstruktion im Vergleich zum Durchschnitt 1961-1990 nach Luterbacher u. a. 2016; rot: 10jähriger Durchschnitt)

Rekonstruierte Sommertrockenheit in Mitteleuropa, 700-1000 (Daten: Büntgen, U., Urban, O., Krusic, P.J. et al. Recent European drought extremes beyond Common Era background variability. Nat. Geosci. 2021; rot: 10jähriger  Durchschnitt)

Nach dem Tod Karls des Großen im Jahr 814 übernahm sein Sohn Ludwig, später genannt „der Fromme“, die Herrschaft. Ursprünglich hatte Karl gemäß den bereits erwähnten fränkischen Gepflogenheiten eine Aufteilung des Reichs unter seinen Söhnen geplant, doch überlebte ihn mit Ludwig nur ein Nachfolger. Der Zusammenhalt des karolingischen Imperiums hing also vom Zufall der Genealogie ab; umso mehr stritten Ludwigs Söhne aus verschiedenen Ehen schon zu seinen Lebzeiten um ihre Anteile an der Macht. Diese blutigen Kämpfe wurden von unheilverheißenden Himmelsphänomenen (wie ein Auftreten des im Mittel alle 75,3 Jahre wiederkehrenden Halley’schen Kometen im Jahr 837), Extremereignissen (wie einer verheerenden Sturmflut in Friesland im Jahr 839), Missernten und Hungersnöten begleitet. Zeitgenössische Chronisten deuteten sie den Traditionen einer ‚moralischen Meteorologie‛ gemäß als Zeichen des Unwillen Gottes über die Machtgier der Königssöhne und der sie jeweils unterstützenden Eliten („Es gibt unzählige Übel, durch die Gott sowohl beleidigt als auch das Reich der Christen gefährdet wird“). Ein typischer Eintrag in einer fränkischen Chronik dieser Zeit zum Jahr 820 lautet:

„In diesem Jahr ereigneten sich aufgrund des anhaltenden Regens und der übermäßigen Luftfeuchtigkeit große Katastrophen. Eine Pestilenz, die sowohl Männer als auch Ochsen betraf, tobte weit und breit, so dass kaum ein Teil des gesamten fränkischen Königreichs gegen diese Seuche immun oder von ihr unberührt gefunden werden konnte. Getreide und Hülsenfrüchte verfaulten in den anhaltenden Regenfällen oder konnten nicht geerntet werden oder verdarben, wenn sie gesammelt wurden. In diesem Jahr wurde wenig Wein produziert, und das Wenige war schlecht und sauer, da es nicht genug warmen Regen gab. An einigen Stellen lief das Wasser der über die Ufer getretenen Flüsse nicht aus den tiefer liegenden Gebieten ab, und diese Überschwemmung verhinderte die Aussaat im Herbst, so dass vor der warmen Frühlingszeit fast kein Getreide gesät wurde. Am 28. Januar gab es in der zweiten Stunde der Nacht eine Mondfinsternis.“

Spätmittelalterliche Darstellung der Bürgerkriege im Frankenreich zwischen 830 und 842

Tatsächlich weisen auch Proxydaten wie Baumringe aus den Alpen oder Sedimentdaten der Rhone auf eine höhere Frequenz von Naturkatastrophen und kältere und feuchtere Bedingungen hin. Zur selben Zeit wurden in der Übergangsphase zwischen spätantiker Kaltzeit und Mittelalterlicher Klima-Anomalie zwischen 820 und 850 mehrere Regionen Eurasiens von Witterungsextremen heimgesucht, vom Königreich Silla in Korea über das Reich der Uiguren in der mongolischen Steppe (das um 840 zusammenbrach) und das tibetanische Kaiserreich (das ab 842 zerfiel) bis zum Byzantinischen Reich.

Aber während daraus resultierende Notzeiten Karl dem Großen als Anlässe für die zumindest formelle und moralische Stärkung seiner Herrschaft dienten, verschärften sie nun vor allem die Not der unter den karolingischen Bruderkriegen leidenden Bevölkerung. Auch als die drei überlebenden Enkel Karls nach dem Tod ihres Vaters Ludwigs des Frommen das Reich 843 erstmals unter sich aufteilten (in ein westfränkisches, ostfränkisches und mittleres Reich, das aber bald in weitere Königreiche zerfiel), setzten sich die Kämpfe fort; Abt Regino von Prüm (ca. 840–915) klagte rückblickend, in diesen Kriegen „wurde die Streitmacht der Franken so geschwächt und ihr glorreiches Heldentum so zerstört, dass sie fortan nicht einmal zum Schutz des eigenen Landes ausreichten, geschweige denn zur Ausweitung der Grenzen des Reiches.“ Das Imperium Karls des Großen war zerbrochen.

Die Teilung des Frankenreichs unter den Enkeln Karls der Großen im Jahr 843